Nobels Testament
im Gesicht. Die gesamte Abendgesellschaft drängte sich an der Terrassentür und sah sie völlig schockiert an – alle außer Jimmy Halenius. Er war herunter auf die Wiese gekommen und lachte Tränen.
»Außerdem hat jemand auf der Straße geparkt«, schrie der Alte. »Diese Übergriffe müssen ein Ende haben!«
»Verzeihung«, sagte Thomas zu seinen Kollegen, und Annika sah, dass er kurz davor war, in Tränen auszubrechen. »Ich bitte wirklich um Entschuldigung, Annika, ich begreife nicht, was in dich gefahren ist …«
»Ich will so nicht leben«, sagte sie leise und riss sich los. »Du musst mich unterstützen, sonst müssen wir auch hier wegziehen. Was glaubst du, warum die vorherigen Besitzer verkauft haben? Du hast doch selbst ausgerechnet, dass sie mindestens zweieinhalb Millionen bei dem Verkauf verloren haben. Ist dir jetzt klar, weshalb?«
Er griff wieder nach ihr, aber sie ging schnell zur Haustür davon.
An der Ecke stand Jimmy Halenius und konnte noch immer nicht aufhören zu lachen.
»Was ist denn so lustig?«, fragte sie, als sie an ihm vorbeiging.
»Entschuldigen Sie«, sagte er und wischte sich über die Augen. »Verzeihung, wirklich, es sah nur so unglaublich komisch aus …«
»Schön, dass ich zu Ihrer Unterhaltung beitragen konnte«, sagte sie und ging zurück ins Haus.
Ich lasse Thomas drangehen, dachte sie, als das Telefon klingelte. Sie zitterte am ganzen Körper und schaffte es kaum die Treppe hinauf.
Soll das Leben
so
sein?, dachte sie. Warum habe ich nie Rückenwind?
Sie lehnte sich gegen das Geländer, die Tränen brannten.
Sie wollten es doch ruhig und sicher haben, deshalb waren sie schließlich hergezogen. Sie wollten einen Ort und eine Gemeinschaft finden, und Thomas sollte endlich stolz auf sie sein können, aber sie passte nicht hierher. Wie sehr sie sich auch bemühte, es ging immer nur schief.
Oh Gott, dachte sie, warum kann ich es mir nie einfach machen?
»Annika«, sagte Thomas hinter ihr. »Annika, die Redaktion ist dran.«
Sie schluckte trocken und schloss die Augen, presste die Handflächen gegen die Stirn.
»Ich fange erst morgen wieder an.«
»Das ist in zwei Stunden, und sie sagen, dass es wichtig ist.«
Ich kann nicht, dachte sie. Es geht nicht.
»Was?«
»Jemand ist gestorben. Er ist in einer Badewanne ertrunken, und er wohnt scheinbar direkt hier in der Nähe.«
»Wer ist es?«
»Sie meinten, du würdest ihn kennen, er hat etwas mit Nobel zu tun. Ein gewisser Ernst Ericsson.«
@ Betreff: Nobels Testament
Empfänger: Andrietta Ahlsell
Der Mensch, der Alfred Nobels Gedanken während seiner letzten Lebensjahre am meisten beschäftigte, war bereits seit fast 300 Jahren tot: Beatrice Cenci.
Das Projekt Nemesis schließt Alfred Nobels Lebenskreis. Er ist zum Dichter berufen. Wenn er etwas sicher weiß, dann das.
Ihr sagt, ich bin ein Rätsel,
schreibt er als Teenager in einem 425 Zeilen langen Gedicht über Paris und die Liebe. Er verfasst andere Gedichte, viele Gedichte,
Nachtgedanken,
er beginnt den Roman
Die Schwestern.
Er hat das siebzehnte Jahr vollendet, als sein Vater Immanuel erkennt, dass Alfreds schriftstellerische Ambitionen – ach und weh! – vollkommen unverfälscht sind.
Sie leben im Russland des Zaren, in Sankt Petersburg, an den Gestaden der Newa. Wer seine Schulden nicht begleichen kann, wird ins Gefängnis geworfen. Die Geschäfte des Vaters gehen schlecht, will Alfred denn den Vater in der Festung sehen? Kann Alfred das in Kauf nehmen? Oder ist er bereit, seinen Teil der Verantwortung zu schultern?
Alfred, Alfred, das sollten sie nicht verlangen! Das ist nicht gerecht! Aber er verbrennt seine Gedichte, verbrennt sie alle, jedes einzelne. Nur zwei sind übrig, Abschriften, die bei anderen liegen.
Die Schwestern
ist vollendet, aber der Roman wird nie veröffentlicht. Und die Jahrzehnte gehen ins Land. Alfred liest, er schreibt Briefe, sammelt eine enorme Bibliothek zusammen. Von allen Lieben, die in Alfreds Leben unerwidert bleiben, ist die Literatur die größte. Dann entscheidet er sich endlich – endlich! –, wahrhaftig zu sein. In einem Bühnenstück im Prosastil will Alfred, der
Dichter,
die Wahrheit über Leben und Tod berichten. Als Rahmenhandlung wählt er die klassische Erzählung des tragischen Schicksals der Familie Cenci. Und der Dichter vollzieht eine schonungslose Abrechnung mit der Kirche und der Gesellschaft. Bereits in der ersten Szene heißt es:
Es gibt keine Gerechtigkeit, weder hier noch auf der anderen
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