Nobels Testament
und knipste, ihretwegen konnte er dort auch gern bleiben.
Zum Glück habe ich nicht mehr Wein getrunken, dachte sie, und in diesem Moment ging der wachhabende Beamte ans Telefon.
»Wollte mal fragen, ob schon feststeht, wer die Voruntersuchung im Mordfall Ernst Ericsson leitet«, sagte sie und hielt in Erwartung der Antwort die Luft an.
Der Wachhabende der Kripo raschelte mit seinen Papieren.
»Noch nicht, sie sind gerade dabei«, sagte er.
Bestätigter Mord also, dachte Annika und machte sich im Geiste eine Notiz.
»Wird es Brolin sein?«, fragte sie schnell.
Jetzt wurde der Polizist hellhörig.
»Weiß nicht«, sagte er.
Staatsanwältin Linda Brolin hatte die Voruntersuchung in den Mordfällen an Caroline von Behring und den beiden Sicherheitsleuten geleitet.
»Alles andere wäre ja ein bisschen unpraktisch«, sagte Annika leichthin, doch der Polizist hatte inzwischen bemerkt, dass er zu viel gesagt hatte.
»Sie werden sich noch mal melden müssen«, sagte er und legte auf.
Sie nahm das Headset vom Ohr und schaute wieder zum Haus hinüber. Nichts rührte sich mehr. Keine flackernden Schatten.
Sie sitzen unten und reden, dachte Annika. Sie beraten darüber, was als Nächstes getan werden muss. Vielleicht sind sie bald fertig.
Da bog vor ihr ein dunkles Auto in die Straße ein. Instinktiv hob sie den Arm, um die Augen gegen das Fernlicht zu schützen. Der Wagen rollte langsam durch den Regen heran und hielt an der Einfahrt zu Ernsts Haus. Die Lichter verloschen, und der Motor erstarb.
Sie blinzelte durch die Scheibe. Was machten die da?
Sie schnappte nach Luft, als sie erkannte, um was für einen Wagen es sich handelte.
Ein Fahrzeug der Polizei, kein Rettungswagen.
Die Polizisten im Haus hatten einen Leichenwagen angefordert. Das bedeutete, dass der betreffende Körper unweigerlich und unwiderruflich mausetot war, außerdem verriet es noch etwas anderes: Der Kopf musste vom Körper abgetrennt sein, so lautete die Bestimmung zur Anforderung des Leichenwagens. Im Laufe der Jahre hatte sie mitbekommen, dass die Polizei ihn auch in anderen Fällen einsetzte, aber eines stand immer fest: Das Opfer hatte einen unfreiwilligen und gewaltsamen Tod erlitten.
Ernst, dachte sie, was haben sie mit dir gemacht?
Ein weiterer Wagen kam langsam die Straße herauf, dieses Mal von hinten. Sie beobachtete die Lichter im Rückspiegel, bis das Auto an ihr vorüberfuhr und unmittelbar vor ihr zum Stehen kam.
Ein Zivilfahrzeug, ein Saab 95 Sedan, Annika reckte den Hals, um sehen zu können, wer jetzt kam. Der Gerichtsmediziner? Noch mehr Leute von der Kripo?
Zwei Männer stiegen aus, der eine trug eine große Kameratasche.
Shit, sie waren vom
Konkurrenten.
Es wäre besser gewesen, bis zum Abtransport der Leiche allein zu sein.
Der Fotograf schlug die Kapuze hoch, um sich gegen den Regen zu schützen, holte seine Kamera aus der Tasche und begann Einstellungen auszuprobieren. Der andere Mann schaute einen Moment zum Haus hinüber, wandte sich dann um, und fasste ihren Jeep ins Auge. Er beugte sich vor, blinzelte und machte ein paar zögernde Schritte. Schließlich kam er herüber und öffnete die Beifahrertür.
»Darf ich reinkommen?«
Es war Bosse.
Annikas Kehle schnürte sich zusammen, sie konnte lediglich nicken.
Der große Mann ließ sich neben ihr nieder und zog die Tür zu.
»Was für ein Wetter«, sagte Annika und schaute durch die Windschutzscheibe hinaus.
»Das kannst du laut sagen«, erwiderte Bosse. Sie spürte, dass er sie anlächelte, und blickte flüchtig zu ihm auf. Oh Gott, sah er gut aus.
»Wie ist es dir ergangen?«, fragte er und holte geräuschvoll Luft.
»Es ist alles ein bisschen viel gewesen …«
Er neigte sich herüber und strich ihr eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht, die an ihrer Wange klebte. Sein Finger hinterließ eine brennende Spur auf ihrer Haut.
»Du hast meine SMS nicht beantwortet«, sagte er leise.
Sie schaute auf ihre Knie.
»Ich … es geht nicht«, sagte sie.
Die Stille im Wageninneren wurde undurchdringlich und schwer und ließ den trommelnden Regen auf dem Wagendach immer lauter und dröhnender erscheinen.
»Willst du mich nicht sehen?«, fragte Bosse mit erstickter Stimme.
Annika schielte zu ihm hoch, sein Gesicht lag im Dunkeln. Seine Anwesenheit erfüllte das ganze Auto, sie spürte seine Nähe so deutlich, als hielte er sie fest im Arm.
Sie wandte den Blick ab.
»Ich kann nicht«, sagte sie.
Er saß da, vollkommen still, sie konnte kaum
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