Nobels Testament
verschmelzen.
Zum ersten Mal empfand sie so etwas wie Nachsicht für dieses Teufelsland. Zum ersten Mal gestand sie den Leuten hier oben am Nordpol eine Ahnung von Existenzberechtigung zu.
Natürlich wusste sie, weshalb; um ihre Beweggründe zu verstehen, brauchte sie keinen Seelenklempner. Das Viertel erinnerte sie an die Wohngegend außerhalb Bostons, wo ihr Vater nach der Scheidung hingezogen war. Große, anheimelnde Villen in dunklen Farben. Sprossenfenster, die unregelmäßig in der Sonne glühten. Säuberlich gemähte Rasen und blühende Obstbäume auf ausgedehnten Grundstücken mit adrett gestrichenen Zäunen und gestutzten Hecken.
Sie musste sich eingestehen, dass sie ein wenig überrascht war.
Trotz allem schien es hier tatsächlich auch ein bisschen Zivilisation zu geben.
Der schreckliche Neubau der kleinen Reporterschlampe war eine Ausnahme.
Auf einem platten Fleckchen Erde, das völlig von Autospuren durchzogen war, hatte sie einen weißen Klotz hingeklatscht – in lebloser Architektur und völlig proportionslos. Es war ein Kinderspiel gewesen, den Grundriss des Hauses ausfindig zu machen, eine alte Internetanzeige lieferte alles, was sie brauchte. Das Erdgeschoss war offen und pissmodern, und oben waren vier Zimmer. Man musste nicht Einstein sein, um sich auszurechnen, wie Familie Bengtzon die Räume aufgeteilt hatte.
Die beiden Zimmer an der Hausvorderseite waren die Buden der kleinen Scheißerchen. Blaue Gardinen mit Automuster im Zimmer des Jungen, die des Mädchens pastellfarben und mit Blümchen, Verzeihung, aber sie musste mal eben kotzen. Auf der Rückseite des Hauses waren das Elternschlafzimmer und ein kleines Arbeitszimmer, dort gab sich Frau Bengtzon also dem mittelmäßigen Sex mit ihrem langweiligen Bürohengst hin und schrieb ihre ekelerregenden Artikelchen.
Ihre Kopfhaut juckte, sie hatte Schwierigkeiten zu atmen und war schlecht gelaunt.
Jetzt galt es, sich zu fokussieren, einen Plan zu machen und die kommenden Schritte festzulegen.
Sie biss sich auf die Zunge, versuchte die Konzentration herbeizuzwingen. Sie setzte ein wohlhabendes Gesicht auf und schaute sich die gediegenen Villen an. Unmittelbar hinter der Popelvilla lag ein richtig schönes Anwesen, ein hochgewachsener alter Mann putzte auf dem Hof seinen Mercedes.
Auf der anderen Straßenseite befand sich die Perle des Viertels. Eine nationalromantische Villa mit drei Etagen plus Keller. Sie umgab ein Schein von gotischer Mystik. Die Fassade war schwer und dunkel, wurde jedoch durch eine Veranda mit großen Glaspartien aufgelockert, die in unregelmäßige Vierecke aufgeteilt waren. Das Grundstück hatte eine beträchtliche Größe und war gut gepflegt, es gab einen Pavillon und einen Springbrunnen. Am hinteren Ende stand ein Hundezwinger.
Sogar das, dachte das Kätzchen und blieb stehen. Sogar mit Hundezwinger.
Sie konnte das Innere des Hauses beinahe vor sich sehen. Sie wusste, wie es roch und sich anfühlte, die befreiende Höhe der Räume, das Licht, das durch die bleiverglasten Fenster fiel, der kalte Luftzug an den Türschwellen im Winter.
In genau so einem Haus hatte Grant gewohnt, mit Pavillon, Hundezwinger und so weiter. Bei dem Gedanken an ihren Freund aus Kindertagen musste sie lächeln. Er hatte bei ihrem Vater nebenan gewohnt, und die Besuche bei Paps waren streng rationiert gewesen. Nur wenn ihre Mutter in die Klapse musste, durfte sie ihn besuchen. Das geschah glücklicherweise mit schöner Regelmäßigkeit, wenn sie sich mal wieder die Pulsadern aufgeschlitzt oder verwirrte Schmierzettel über
the horrible whore
(Paps’ neue Frau, die sie nie anders bezeichnet hatte) verfasst hatte.
Die wenigen Besuche bei Grant waren magische Stunden gewesen. Sie ließ den Blick über das Anwesen schweifen.
Der Pavillon, wo sie ihren ersten Joint geraucht hatten.
Die Dachstube, wo sie die Pornozeitschriften versteckt hielten.
Der Keller, wo sie Mäuse gefangen und dann geübt hatten, ihnen bei lebendigem Leib mit einem alten Küchenmesser den Kopf abzuhacken.
Sie lachte leise bei der Erinnerung daran.
Grant war damals wirklich speziell. Schade, dass er später so ein Langweiler geworden war. Dirigent eines verdammten Symphonieorchesters, langweiliger ging es wohl kaum.
Sie seufzte und schob das Fahrrad weiter, hopp Galopp, tripp trapp. Sie stützte sich fest auf den Lenker auf, um das linke Bein zu entlasten und Schmerzen zu vermeiden. Es war beinahe nicht zu sehen, dass sie humpelte.
Nicht mehr lange, und ihre
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