Nobels Testament
wahrzunehmen, aber das war vermutlich nur Einbildung. Auf beiden Seiten des Autos erstreckte sich tiefblaues Wasser, manchmal ein dunkler See, manchmal kristallklares Meer. Von Stränden und Buchten streckten sich hellgraue Felsen wie Zungen ins Meer, knorrige Kiefern und zarte Birken säumten den Weg. Gelbe Holzhäuser mit weißen Ecken und silbergrauen Stegen ruhten friedlich zwischen Felsen und Zäunen.
Hier draußen war sie noch nie gewesen.
Am Strömma-Kanal fuhr sie direkt nach Saltkråkan, dem Sinnbild schwedischer Schärenidylle.
Wie schön es hier war!
Das GPS passte auf, dass sie in die richtige Richtung fuhr, allein hätte sie nie den Weg gefunden. Ungefähr fünf Kilometer nach dem Strömma-Kanal bog sie rechts ab und fand sich auf einem gewundenen Schotterweg wieder, der sich über Anhöhen und durch Birkenwäldchen schlängelte, an Friden vorüber und weiter nach Tavastboda.
Sie passierte Lars-Henry Svenssons Hütte, ohne sie zu bemerken, und musste deshalb auf einem Hügel wenden und zurückfahren. Sie hielt oberhalb des Grundstücks hinter einem dort abgestellten Ford und schaute hinunter auf das kleine Haus.
Es lag einfach zauberhaft an einem kleinen Abhang mit Aussicht über das Wasser. Vollkommen einsam, die Natur buchstäblich vor der Haustür. Die Fassade des Häuschens war gezimmert und in Schwedischrot gebeizt, hatte originale Fenster aus der Jahrhundertwende und weiße Eckbalken. Es war eine alte Fischerkate. Der Sonnenuntergang glitzerte in den Fenstern. Auf der Rückseite entdeckte sie ein Außenklo und einen großen Grill, ein Stück weiter zum Wasser hinunter stand ein weiteres Holzhäuschen, vermutlich eine holzbefeuerte Sauna.
Annika schaltete den Motor aus und öffnete die Wagentür.
Mehr als rauswerfen konnte er sie nicht.
Es war kühler als in der Stadt, herrlich frisch. Sie sog die Luft tief in die Lungen und überließ ihr Haar dem Wind.
Vielleicht sollte man so leben. Gehörte sie möglicherweise in den Tavastbodavägen?
Sie ging hinunter zum Grundstück, das eigentlich nichts weiter als ein Stück begradigter Wildnis mit Beeten wilder Blumen war. Dort wuchsen tatsächlich Maiglöckchen, aber auch Butterblumen und Buschwindröschen, und an einem kleinen Bach stand eine Schar Mittsommerblumen. Rund um das Grundstück waren nadelbedeckte Pfade, sorgfältig mit schönen, runden Steinen begrenzt.
Ob er das selbst gemacht hat?, dachte Annika. Verbringt er seine Ferien damit, die richtigen Steine zu sammeln, seinen Boden zu ebnen und Pfade anzulegen?
Lars-Henry Svensson war im staatlichen Melderegister als ledig registriert, aber das musste ja nicht bedeuten, dass er keine Frauenbekanntschaften hatte.
Sie betrat die Veranda und klopfte an die Haustür.
Nichts rührte sich.
Sie klopfte noch einmal, etwas nachdrücklicher diesmal.
Keine Reaktion.
»Lars-Henry Svensson?«, fragte sie laut und deutlich.
Ein Rauschen ging durch die Kiefern hinter dem Haus.
Sie ging wieder hinunter auf die Wiese und um das Haus herum, wo sich das Klohäuschen und der Grill befanden. Die Asche im Grill war flockig und weiß, sicher schon einige Tage alt. Das Klohäuschen war klein, rot und klassisch. Sogar ein kleines grünes Herz war auf die Tür gemalt. Sie musste an ihre Großmutter in Lyckebo denken. Aus dem Augenwinkel nahm sie die Reflektion eines leuchtenden Goldstreifs am Himmel wahr.
»Wie schön«, flüsterte sie.
Sie kehrte zum Haus zurück, klopfte noch einmal an, dann betätigte sie die Türklinke. Es war nicht abgeschlossen. Vorsichtig schob sie die Tür auf und schaute in den kleinen hellblauen Flur.
»Hallo …?«
Keine Antwort.
Sie trat ein. Links war eine kleine Küche, weiter hinten ein kleines Schlafzimmer. Auf der rechten Seite befand sich ein größerer Raum, der sowohl als Esszimmer als auch als Wohnzimmer diente. Ein Fernseher lief, der Ton war abgestellt. Der kleine Esstisch war gedeckt, eine Portion Hering mit Kartoffeln und ein Schnaps standen bereit. Eine Lampe brannte.
Vielleicht ist er unten am Meer, dachte Annika. Vielleicht ist er noch einmal losgefahren, um sich ein Bier zum Hering zu besorgen.
Aber sein Auto stand ja dort oben, der alte Ford gehörte doch sicher ihm.
Sie verließ das Haus, beschämt über ihr Eindringen, erleichtert, wieder draußen zu sein.
Die Sonne versank im Wasser. Langsam schlenderte sie hinunter zum Steg, wo ein Ruderboot schaukelte.
Vielleicht ist er mit dem Boot rausgefahren, dachte Annika. Vielleicht kontrolliert er die
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