Nobels Testament
Hast du verstanden?«
Die Augen des Jungen wurden groß wie Untertassen. Langsam zeichneten sich Einsicht und Schrecken ab.
Sie ließ ihn los und riss das andere Kind zu sich heran.
»Alexander«, flüsterte sie, ihr Atem umschloss sein Gesicht, »wenn du jemals wieder gemein zu Kalle bist, dann komme ich nachts zu dir und schlage dich tot. Ist das klar?«
Der Junge begann zu zittern, verschreckt starrte er sie an. Sie ließ ihn los und sah die beiden an.
»Und wisst ihr, was? Das gilt nicht nur für Kalle, sondern für alle Kinder.«
Dann richtete sie sich auf, machte auf dem Absatz kehrt und ging davon. Sie pflügte sich durch Fluten und Bäche von Kindern und Spielsachen zu ihrem Auto am Ende des Tunnels.
Mit dem merkwürdigen Gefühl, ein Flugzeug und nicht ein Auto zu steuern, fuhr sie in die Stadt. Die Räder schienen keinen Bodenkontakt zu haben, und sie raste durch Himmel und Wolken.
War es dumm gewesen? Dumm? War es dumm?
Ach egal, dachte sie und spürte, wie die Räder wieder griffen. Ich würde es noch einmal tun, wenn ich müsste.
Der Himmel war verhangen. Als sie den Wagen parkte, lag Regen in der Luft.
Sie kam in die Redaktion und war noch immer befremdet, dass es dort plötzlich so eng, aber menschenleer war.
Berit saß schon an ihrem Platz und schrieb.
»Fortsetzung?«, fragte Annika.
»Wer hat was gewusst?«, fragte Berit rhetorisch. »Wer hat zugestimmt? Wer hat den Übergriff sanktioniert? Wer hat mit der jordanischen Regierung verhandelt? Ich werde in dieser schrecklichen Sache jeden Stein umdrehen. Wie läuft’s eigentlich bei dir?«
Annika sank auf Patriks Stuhl.
»Irgendwas muss am Samstag vorgefallen sein«, sagte sie. »Erst hatte so eine Nobelgruppe eine Konferenz und ein Seminar, und im Anschluss gab es ein kleines Besäufnis, im Laufe dieses Nachmittags ist irgendetwas vorgefallen, das zu den Morden an Ernst Ericsson und Lars-Henry Svensson führte.«
»Könnt ihr mal zuhören!«, brüllte Spiken vom Newsdesk. Annika und Berit reckten die Hälse und schauten zu ihm hinüber.
Wie in alten Zeiten kletterte Schyman aufs Newsdesk. Er stellte sich barfuß und breitbeinig auf den Tisch, so wie man es früher machte, als die Abendzeitungen noch am Nachmittag erschienen und die Mitarbeiter vor allem dazu da waren, zu schreiben, zu redigieren und zu fotografieren. Alles, um eine Zeitung zusammenzuschustern, deren Auflage um 04.45 Uhr in irgendeiner Kelleretage in Druck ging. Mit anderen Worten: Er benahm sich wie in grauer Vorzeit.
Es hatte nicht mehr denselben Effekt.
Schyman stand auf einem viel kleineren Tisch, und es waren viel weniger Leute um ihn herum. Und die zeigten sich längst nicht so enthusiastisch wie früher.
Der Chefredakteur hielt die aktuelle Ausgabe der Zeitung hoch und zeigte sie nach Norden, Süden, Osten und Westen.
»Das hier«, sagte er, »ist die beste Nummer in der Geschichte dieser Zeitung. Noch nie hatten wir auf jeder Nachrichtenseite eine Weltsensation. Wir werden von AP, AFP, Reuters und CNN zitiert.«
Die Angestellten warfen sich peinlich berührte Blicke zu, die meisten von ihnen hatten nichts mit diesem angestaubten Papierkram zu tun, sie arbeiteten für das Web, das Lokalfernsehen, das kommerzielle Radio oder für irgendeine Hochglanzbeilage. Kaum einer von ihnen las die Zeitung.
»Berits Enthüllung darüber, wie einer fremden Staatsmacht gestattet wurde, auf schwedischem Hoheitsgebiet zu operieren, wird im Laufe des Tages von uns fortgesetzt werden«, sagte Schyman triumphierend von seinem Platz hoch oben. »Es ist bereits absehbar, dass alle anderen Medien geschlafen haben. Annikas Bericht über den Nobelmord werden wir ebenfalls fortsetzen, in der heutigen Ausgabe haben wir den Mörder entlarvt und gezeigt, dass das Morden noch weiterzugehen scheint. Heute ist ein großer Tag für uns alle. Jetzt legen wir los!«
Früher war eine solche Rede in Jubel und Applaus untergegangen. Jetzt standen die Leute einen Augenblick verwirrt herum und sahen einander an, bevor sie eilig in alle Richtungen davonstoben.
Annika und Berit saßen mit verschränkten Armen da und sahen besorgt zu.
»Er hat die Gegenwart noch nicht ganz im Griff«, sagte Berit. »Manchmal frage ich mich, ob er überhaupt weiß, worum es hier geht.«
»Ich glaube, er ahnt es«, sagte Annika. »Jetzt muss er das, was er angeleiert hat, auch in Gang kriegen. Es ist seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass alle, die hier arbeiten, am selben Strang ziehen. Er muss den Journalismus
Weitere Kostenlose Bücher