Nobels Testament
in die Blaue Halle führt. Dort musste man dann ein paar Minuten anstehen und seine Einladung vorzeigen, und dann war man drin.«
»Ist das wahr?«, fragte Berit skeptisch. »Sag, dass die Einladung wenigstens elektronisch war.«
Annika trank einen Schluck Kaffee und schüttelte den Kopf.
»Gedruckt. Schwarzer Text auf cremefarbenem Papier. Ich finde, dass es immer noch nicht ganz stimmt«, sagte sie und studierte das Phantombild auf der Titelseite der Zeitung. »Obwohl ich nicht sagen kann, wo der Fehler liegt.«
»Du musst einen ziemlich ausführlichen Blick auf sie geworfen haben.«
»Weniger als zwei Sekunden«, sagte Annika. »Erst dachte ich, dass ich mich an gar nichts mehr erinnere, aber der Polizist von der Täterprofilgruppe war gut. Er hat von hier hinten Bilder hervorgeholt, von denen ich selbst nichts wusste.«
Sie klopfte sich gegen den Kopf.
»Das muss wirklich unangenehm gewesen sein«, sagte Berit.
Annika sank in sich zusammen, blickte leer auf ein großes Textilkunstwerk, das an der Wand hing.
»Erst hätte ich fast angefangen zu lachen«, sagte sie, und sofort klang ihre Stimme ein wenig dünner. »Es sah so cool aus, wie der Typ förmlich zu Boden tanzte. Ich dachte, er wäre betrunken. Aber dann kam ein Schrei, irgendwie von rechts, er wurde immer lauter und größer, bis alle schrien und das Orchester aufhörte zu spielen. Dann breitete sich das Geschrei in alle Säle aus. Es ging wie in Wellen …«
Annika verstummte, und Berit wartete einige Sekunden.
»Was haben die Sicherheitsleute gemacht?«
Die grauen Anzüge mit Knopf im Ohr.
»Während des Essens standen sie auf der Galerie vor dem Goldenen Saal und entlang des Säulengangs zum Bürgerpark. Als die Leute später tanzten, verteilten sie sich; viele von ihnen waren in der Prinsens-Galerie, wo das Königspaar saß. Andere standen unten an den Eingängen, nehme ich an. Oben auf der Tanzfläche war kaum einer. Aber als Caroline auch noch fiel, kamen sie von allen Seiten herbei und schlossen die ein, die am nächsten standen. Wir durften uns nicht vom Fleck bewegen, ehe wir vernommen worden waren.«
»Du hast also gesehen, wie der Typ angeschossen wurde. Hast du auch mitbekommen, wie sie getroffen wurde?«
Annika fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, strich es zurück.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich habe sie angesehen, als sie selbst entdeckte, dass sie getroffen war, es kam wie ein Strahl aus ihrer Brust, so ungefähr …«
Sie demonstrierte es mit der Hand.
»Und dann bin ich hingefallen, ich bekam einen Stoß und landete auf dem Boden, genau neben ihr. Da war ein Mann, der ihr die Hände aufs Herz drückte, und zwischen seinen Fingern sprudelte Blut hervor, hellrotes Blut, irgendwie mit Luftblasen drin …«
Für eine Sekunde hatte sie sich die Hände vor die Augen gehalten, um nichts sehen zu müssen.
»Puh, wie schrecklich«, sagte Berit. »Wäre es nicht besser, du würdest mit jemandem darüber sprechen?«
»In einer Therapiegruppe vielleicht?«, fragte Annika und richtete sich auf. »Ich glaube nicht.«
»Warum nicht? Viele holen sich auf diese Art Hilfe.«
»Ich nicht«, sagte Annika, und im nächsten Augenblick klingelte ihr Handy.
Es war Spiken vom Newsdesk.
»Hattest du vor, heute noch hier vorbeizukommen, oder hast du dir freigenommen?«
»Ich arbeite«, sagte Annika.
»Gut. Dann hast du vielleicht schon gehört, was passiert ist?«
Annika wurde kalt.
»Was?«
»Die Terrorgruppe Neuer Jihad hat sich zu dem Nobelmord bekannt.«
Die Redaktion war fast verlassen. Annika Bengtzon und Berit Hamrin kamen von der Kantine herübergelaufen, Handtaschen und Jacken unter dem Arm. Patrik Nilsson saß am Newsdesk und las E-Mails, Spiken sprach aufgeregt ins Telefon, gleichzeitig machte er Bilder-Pelle in der Fotoabteilung Zeichen.
Anders Schyman bürstete sich ein wenig Schnee von den Schultern, zog den Mantel aus und warf ihn über einen einsamen Bürostuhl.
»Sollen wir die Sache gleich einmal durchgehen?«, fragte er und merkte selbst, wie müde er klang. »Dieses Attentat ist ein Verbrechen, wie es in Schweden noch nie vorgekommen ist. Das bedeutet, wir müssen sehr genau aufpassen, wo die ethischen Grenzen verlaufen und dass die schwedischen Gesetze gewahrt bleiben.«
Schnell ließ er den Blick über die Bürolandschaft gleiten, keiner seiner Mitarbeiter hatte mehr als ein paar Stunden geschlafen. Es stand ihm nicht zu, zu jammern.
Es ist eine neue Zeit, dachte er und ließ sich schwer auf das
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