Nobels Testament
Nobelmord klar vor Augen geführt. Eine Medienstudie hatte ergeben, dass sechsundfünfzig Prozent der Schweden die Nachricht vom Nobelmord zunächst aus dem Internet vernommen hatten.
Er legte die Unterlagen auf seinem Schreibtisch zurecht und ging dann nervös ans Fenster, um sich den Soldaten im Botschaftshäuschen anzusehen. Wie üblich stand dort unten ein Uniformierter, vielleicht war es immer der gleiche. Jedenfalls sah er allen anderen zum Verwechseln ähnlich, er trug die gleiche Pelzmütze und hatte den gleichen gelangweilten Gesichtsausdruck. Der Junge blinzelte in die Sonne, als er die Limousine musterte, die langsam vor dem Haupteingang des
Abendblattes
vorfuhr.
»Er ist jetzt da«, informierte ihn seine Sekretärin über die Sprechanlage.
Ja, dachte der Chefredakteur, das sehe ich.
Der Aufsichtsratsvorsitzende Herman Wennergren stieg vorsichtig aus dem Auto, besorgt um seine blank geputzten Schuhe.
Er muss meinen Vorschlag einfach annehmen, dachte Schyman, sonst kann ich anfangen, Golf zu spielen.
Als der Vorsitzende der Zeitung ein paar Minuten später den Raum betrat, sah er verbissen aus.
»Was für ein Elend«, sagte er. »Die Nobelpreis-Gala war ja eines der wenigen anständigen Feste, die wir hierzulande noch hatten. Habt ihr den Mörder schon erwischt?«
»Wir arbeiten daran«, sagte Schyman und musste sich zurückhalten, nicht hinüberzueilen und dem Mann seinen Mantel abzunehmen. Stattdessen nahm er seinen Stapel Papiere und bot dem Aufsichtsratsvorsitzenden am Konferenztisch einen Platz an.
»Ich verstehe nicht, was es so Wichtiges gibt«, sagte Herman Wennergren und legte seine Ledermappe und seinen Seidenschal auf dem Besuchersofa ab. »Warum konnte es denn nicht bis zur nächsten Vorstandssitzung warten?«
»Ich habe einen Entwurf angefertigt, wie unsere Berichterstattung entsprechend der aktuellen Ansprüche und Voraussetzungen entwickelt werden sollte«, sagte Schyman und setzte sich.
Er legte eine Kunstpause ein, und Wennergren ließ sich ihm gegenüber nieder.
»Es ist ein weitreichender Entwurf, der sowohl die Technik als auch das Personal, unsere Zukunftsperspektiven und unsere Infrastruktur umfasst«, fuhr Schyman fort.
Herman Wennergren sagte nichts, sondern sah hochgradig skeptisch aus. Anders Schyman legte ihm sein erstes Papier vor.
»Seien wir ehrlich«, sagte er und spürte, dass seine Handflächen feucht wurden. »Seit wir den Erscheinungstermin vom Nachmittag auf den Morgen verlegt haben, liegt auch die Deadline der Zeitung einige Stunden früher. Die Nachrichtenredaktionen beim Fernsehen haben viele Sendeplätze, derselbe Reporter muss also mehrere Meldungen in kürzerer Zeit abliefern. Im Internet werden die Berichte von einer Sekunde auf die nächste veröffentlicht. Das hat die Vielfalt nicht vergrößert, im Gegenteil. Weniger Zeit zum Resümieren zieht Vereinheitlichung nach sich. Da alle Medien über dieselben Sachen berichten, finden sich die Nuancen schließlich nur noch in den unterschiedlichen Blickwinkeln.«
»Hm«, sagte Herman Wennergren und schielte auf seine Uhr.
Anders Schyman zwang sich, das Tempo zu drosseln, er bemerkte selbst, dass er viel zu gehetzt klang.
»Die seriösen Medien haben sich immer auf Technik, Recht, Wirtschaft und Politik konzentriert, traditionell eher
männliche
Themen. Ihre Berichterstattung hat in der öffentlichen Debatte immer ihren Platz gehabt, sie galt als stubenrein und sehr glaubwürdig. In diesem Bereich finden sich die meisten angesagten Medien: die Morgenzeitungen, die Nachrichten auf SVT und das Echo.«
Er lehnte sich zurück und versuchte die Schultern zu entspannen.
»Der Boulevardjournalismus, wie wir ihn repräsentieren, hat überwiegend in den Abendzeitungen Platz. Wir legen unseren Schwerpunkt eher auf das Persönliche und Private. Ein Blickwinkel, der generell für das
Weibliche
steht. Ein Mensch wird ins Zentrum eines Ereignisses gestellt, und die Nachricht wird in seine Gefühle und Erfahrungen verpackt.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte der Aufsichtsratsvorsitzende und schien nahezu verwirrt.
»Bei allen Verbrechen und Katastrophen«, sagte Schyman, »ist es besonders wichtig, sich in die betroffenen Menschen hineinversetzen zu können. Man möchte die Verzweiflung der Angehörigen spüren, der destruktiven Kraft des Täters begegnen. Bei den ausländischen Medien hat hauptsächlich das Fernsehen diesen ›persönlichen‹ Journalismus übernommen, aber in Schweden sind die
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