Nobels Testament
Frieden.
Alfred macht sich Sorgen über die Verwendung seiner Erfindung, er ist kein gewalttätiger Mann, im Gegenteil. Er begreift, dass die Kunst des Krieges sich erst in einem Anfangsstadium befindet, dass ein Wettrüsten vor der Tür steht. Mit dieser Erkenntnis ist er seiner Zeit viele Jahrzehnte voraus: Wenn die Vernichtungswaffen einmal ihre Vollendung erreicht haben, wird das Moment der Abschreckung so groß sein, dass die Menschen gezwungen sein werden, in Frieden miteinander zu leben.
Sie haben eine Woche. Eine gemeinsame Woche im Grand Hotel in Paris. Alfred hat etwas Einmaliges gefunden. Er erkennt fast unmittelbar, dass ihm so etwas nie wieder begegnen wird, hier ist sie! Und er fragt sie aufrichtig: ob ihr Herz noch frei sei? Sie antwortet wahrheitsgemäß: Es gebe einen Mann, einen jungen Adelsmann, den sie nicht ehelichen dürfe. Sie sei zu arm und zu alt. Aber ihr Herz gehöre ihm.
Und Alfred geht, er verlässt das Grand Hotel in Paris, und als er zurückkehrt, ist sie verschwunden. Sie hat ihr letztes Diamantarmband verkauft und mit dem Geld die Hotelrechnung beglichen. Zusammen mit dem jungen Mann flieht sie nach Russland. Sie heiratet Arthur von Suttner am 12. Juni des Jahres 1876 und verbringt neun Jahre im Exil, sie leben zwischen den Bergen des Kaukasus, im sogenannten Mingrelien. Sie wird Schriftstellerin und Friedensaktivistin, aber sie vergisst nie. Bertha hält den Kontakt mit Alfred Nobel den Rest seines Lebens aufrecht, jedoch fast ausschließlich per Post. Nach dem Sommer 1876, dem schrecklichen Sommer 1876, sehen sie sich nur noch ein einziges Mal wieder.
Alfred, Alfred, wie schleicht er durch seine Wohnung in Paris, wie trauert er in seinem großen Haus in der Avenue Malakoff, so schmerzlich erinnert an die Leere in seinem Leben. Im Sommer 1876, als er mehr denn je im Dunkeln tappt, streckt er seine Hand aus, und da steht in einem Blumenladen in Baden bei Wien eine junge Frau. Sie heißt Sofie Hess, sie ist jung (nur zwanzig Jahre alt), sie ist elternlos und
einsam
(genau wie er), sie ist lieblich und erinnert flüchtig an Bertha.
Vielleicht kann sie werden wie
sie.
Vielleicht kann Alfred aus Sofie eine Dame von Welt machen. Vielleicht kann aus ihr ja eine Gräfin werden, mit dem Vermögen, die großen Fragen des Lebens zu diskutieren.
Wie sehr versucht er es. Wie Alfred sich anstrengt. Er unterrichtet, informiert und versorgt. Vielleicht liebt er, denn er schenkt Sofie eine Villa in Ischl und eine große Wohnung in Paris (unweit seiner eigenen), oder besitzt er nur? Erkauft sich das, was er nicht bekommt? Aber so jung ist Sofie gar nicht. Sie ist keine zwanzig, sondern erreicht bald die dreißig. Sie ist nicht elternlos, ihr Vater Heinrich lebt. Sie ist lediglich einsam. Einsam in ihrer großen Wohnung in Paris in der Avenue d’Eylau, einsam und gelangweilt.
Alfred ist so
traurig.
Er fordert und fordert nur. Er reist zwischen seinen Fabriken hin und her und schreibt laaaaange Briefe, die von Projekten und Experimenten und Rechtsstreiten und Dynamitgesellschaften handeln, und Sofie gähnt. Sie antwortet in ihrer kindlichen Handschrift mit Klatsch und der Bitte um mehr Geld. Lieber Alfred, wann siehst du ein, dass du betrogen wurdest? Wann erfährst du, dass Vater Heinrich lebt? Als Sofie nach Wien zurückkehrt und sich Frau Nobel nennt? Wann erkennst du, dass sie das Kind eines anderen unter dem Herzen trägt? Ihre koketten Betteleien schallen durch die Jahrzehnte:
Mein lieber Alfred!
Ich habe schon lange nichts mehr von Dir gehört. Außerdem bin ich sehr besorgt, denn mir selbst geht es sehr schlecht, und ich finde keine Ruhe … Ich habe kein Geld zum Leben und war heut gezwungen, meine letzte Brosche zu verpfänden. So schwer wie jetzt ist’s mir noch nie gewesen. Ich bin vollkommen verzweifelt. Und das arme Kind – welches Schicksal wird es erleiden?
Ich grüße und küsse Dich innigst
Deine
Sofie
Was denkt er, der Industriemagnat, als er den in runden, großen Buchstaben geschriebenen Text zu lesen bekommt?
Welche Saiten bringt es zum Klingen, das Mädchen, das nie zur Dame wurde? Was verbirgt sich in seinem einschmeichelnden Ton, das Alfred wieder und wieder Geld schicken lässt?
Alfred, Alfred, warum lässt du dich ausnutzen?
Mein lieber Alfred!
Ich finde keine Wohnung, da alle zu teuer sind … Ich bin verzweifelt. Es ist deprimierend, im Winter mit einem Kind in einem kalten Hotelzimmer wohnen zu müssen und schlechtes Essen zu bekommen … Erlaubst Du
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