Noch ein Kuss
die Augen zusammen und dachte über ihr seltsames Verhalten nach. Nun erkannte er, dass sie angeschlagener war, als er ursprünglich angenommen hatte. Trotzdem zügelte er den Drang, Carlys Schmerz zu lindern, sie in die Arme zu nehmen und nie mehr gehen zu lassen.
Dass sie seinem Bruder den Laufpass gegeben hatte, bedeutete nicht, dass sie für eine neue Beziehung bereit war. Insbesondere, wenn es sich dabei um eine kurze Affäre mit einem Mann handelte, der, wie sie so treffend bemerkt hatte, bindungsunfähig war und bei dem sie jederzeit damit rechnen musste, dass sein Beruf ihn weit fortführte.
Sie hatte genug durchgemacht. Er wollte ihr nicht noch mehr wehtun.
Carly schaute von dem Artikel auf. »Zu dumm«, murmelte sie. »Hochzeiten, die abgesagt werden, weil die Braut mit Scheuklappen durch die Gegend gelaufen ist, während der Mistkerl von Bräutigam fremdgegangen ist, sind da nicht mit eingeschlossen.« Bei den letzten Worten versagte ihr die Stimme. Sie ließ den Arm sinken, und das Blatt fiel zu Boden.
»Carly … « Mike stand wieder auf.
»Das, was ich bezahlen muss, um diese Scharade zu beenden, kostet mich mein ganzes Erspartes und mehr.«
»Peter wird seinen Anteil beisteuern«, murmelte Mike. Dafür würde er sorgen. »Aber besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.«
Carly versuchte zu lachen, brachte aber nur ein ersticktes Schluchzen heraus. Sie senkte den Kopf, sodass ihr feuchtes Haar nach vorn fiel und ihr Gesicht verbarg. Dann begannen ihre Schultern plötzlich heftig zu zucken.
Bei dem Anblick zerbrach irgendetwas in Mike. Seit dem Tod seiner Eltern hatte er niemanden an sich herangelassen. Und trotz seiner engen Beziehung zu seinem Bruder hatte nicht einmal Peter die Mauer durchbrechen können, die Mike um sein Herz errichtet hatte. Doch Carly weckte etwas in ihm, das er noch nie empfunden hatte und deshalb auch nicht verstand. Sie war in einen Bereich seiner Persönlichkeit vorgedrungen, den er fast sein ganzes Leben abgeschottet hatte. Als er sie ansah, beschlich ihn das beunruhigende Gefühl, dass nichts jemals wieder so sein würde wie früher.
Mike ging durch das Zimmer, hockte sich neben Carly, hob die Hand und ließ sie dann unschlüssig wieder sinken. Da er als Kind nie warmherzig oder liebevoll in den Arm genommen worden war, war er nicht sicher, wie er sie trösten sollte. Er wusste nur, dass er es versuchen musste.
Also schlang er die Arme um sie, und sie schmiegte sich an ihn. Dann wiegte sie sich hin und her, und er hielt sie fest. Der angenehme Duft ihres Shampoos hüllte ihn ein, kitzelte seine Nase und brachte ihn in Versuchung.
Und je deutlicher sein Begehren sich zeigte, desto weniger dachte er daran, sie zu trösten. Nach und nach brachte er sie dazu, sich so weit zu entspannen, dass sie schließlich Seite an Seite auf den Bodenkissen lagen. Dann bettete er ihren Kopf auf seine Brust und strich mit den Fingern durch ihr seidiges Haar. Mit der Zeit hörte sie auf zu zittern, schob ihn aber trotzdem nicht von sich. Stumm lagen sie beieinander und Carlys schnelle Atmung beruhigte sich allmählich. Während sie unbewusst ihre Atemzüge an seine anpasste, erfüllte ihn ein Gefühl der Zufriedenheit. Es war, als wäre er immer hinter etwas hergelaufen und hätte nun endlich gefunden, wonach er gesucht hatte.
»Möchtest du darüber reden?«
»Nein.« Carlys erstickte Antwort war kaum zu hören. Mit einer Hand strich Mike ihr das wirre Haar aus dem Gesicht.
»Sicher tut es sehr weh, von jemandem betrogen zu werden, den man liebt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Bin ich ja nicht.«
Wieso nicht? Selbst wenn Peter sonst nichts getan hatte, er hatte sowohl ihr Vertrauen als auch ihre Unschuld missbraucht. Mike hoffte nur, dass er beides nicht auch noch irreparabel beschädigt hatte.
Stockend sog Carly den Atem ein. Ihre Augen hatten einen glasigen Glanz und ihre dunklen Wimpern waren feucht und verklebt. »Ich bin nicht von jemandem betrogen worden, den ich liebe«, sagte sie und schlug die Augen nieder. »Ich habe so lange nachgegeben, bis von mir fast nichts mehr übrig war. Und dadurch habe ich es ihm ermöglicht, mich zu betrügen.« Sie seufzte. »In gewisser Weise habe ich von dem, was mir passiert ist, verdient.«
»Wie kommst du denn darauf, verdammt nochmal?«
»Ich habe ja nicht gesagt, dass ich alles verdient habe, aber es ist nicht zu leugnen, dass ich ihn ebenfalls benutzt habe.« Sie starrte angelegentlich auf ihre Hände. »Ich habe
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