Noch nicht mal alleinerziehend
wie die von Rocky Balboa, der nach Adrian schrie. Nora hatte keine Adrian. Ihr Hals tat weh, und überhaupt fühlte sie sich sehr, sehr krank. Zwischendurch, wenn sie einen der seltenen klaren Momente hatte, fragte sie sich, was eigentlich mit ihr los war? Schließlich wollte sie nicht mehr mit Tobi zusammen sein. Sie hatte sich das damals gut überlegt. »Aber wenn deine Mutter doch Recht hatte?«, meldete sich eine Stimme in ihrem Kopf. »Kind«, hatte ihre Mutter damals ganz behutsam begonnen, nachdem Nora ihr zum ersten Mal ihre Trennungsgedanken mitgeteilt hatte. »Ich glaube, du hast viel zu hohe Ansprüche an eine Partnerschaft. Wenn du von dem, was du erwartest, nur 55 Prozent statt 50 bekommst, dann ist das enorm viel. Das ist eine gute Basis für eine dauerhafte Beziehung, die für immer halten kann.«
Nora hatte das nicht verstanden. Was war das für eine Gleichung? 55 Prozent hörte sich für sie genauso schlecht an wie 50. Was sollten diese fünf Prozent für einen Unterschied machen? Sie wollte sich nicht zufriedengeben. Es ging um Liebe! Sie wollte 100 Prozent. Alles! Das große Ganze!
»Weißt du, Nora, das ganze Verliebtsein, die Schmetterlinge im Bauch, das Verlangen …«
»Mama!«
»Hör mir zu! Das geht alles vorbei. Aus Verliebtsein wird Liebe und Freundschaft. Und was einen am Ende trägt, ist das Vertrauen und das Gefühl, jemanden an seiner Seite zu haben, der dich ergänzt. Mit dem du ein Team bildest, ein Ganzes.«
»Aber deshalb kann ich doch nicht mit Tobi zusammenbleiben. Das wäre unfair ihm gegenüber. Ich kann doch nicht sagen: Du, ich liebe dich wie einen Bruder. Und wenn es o. k. für dich ist, dass wir nicht mehr bumsen …«
»Nora, nicht in meinem Haus!«
»…, dass wir keinen Verkehr mehr miteinander haben, dann können wir gerne für immer zusammen wohnen bleiben. Natürlich darfst du Verkehr mit anderen haben, das werde ich nämlich auch tun!«
»Kind, ich sage nur: das Verliebtsein und die Begierde gehen. Überleg dir genau, ob Tobi nicht doch der Richtige für dich ist.«
Damals hatte Nora entschieden, dass er nicht der Richtige war. Er war es gewesen. Für eine ziemlich lange Zeit. Aber jetzt konnte er diese Position nicht mehr ausfüllen. Er bekam eine neue: einen Freundschaftsplatz. Und nun, wo er sich für ein anderes Leben entschieden hatte, stellte sich Nora, eingeigelt in ihrer nach Nikotin, Bier und Essensresten müffelnden Höhle, doch diese Fragen: Was, wenn Tobi der Richtige gewesen war? Was, wenn sie sich falsch entschieden hatte und nie mehr jemand vergleichbaren treffen würde? Hatte sie das große Ganze in ihrem Leben nicht erkannt? Eigentlich lebte sie so, wie sie es immer gewollt hatte, doch plötzlich war sich Nora nicht mehr sicher, ob das tatsächlich der richtige Weg war. Früher, da hatte sie wenigstens von ihren Freunden noch das Feedback bekommen, wie authentisch sie lebe. Heute beäugten sie sie, bis auf Luna, misstrauisch, zeigten Nora ganz offen, dass irgendetwas falsch bei ihr lief. Sie machten sich Sorgen um sie, genau wie ihre Eltern. Und ihre Schwester fand sie neurotisch und wollte erst wieder mit ihr sprechen, »wenn sie aufgehört hatte, zu spielen«. Selbst Tobi würde jetzt heiraten. Es war nicht zu übersehen, es war bereits an alle Wände gesprayt worden: Nora saß ganz alleine im Kinderparadies!
Noras Zustand hielt eine knappe Woche an. Nachdem sie sich mit allen möglichen Szenarien gequält hatte, wachte sie eines Morgens auf und fühlte sich etwas erleichtert. Sie ging in die Küche und schaute auf ihren Kalender. Nach ihren Berechnungen musste es Montag, der 10. Mai, sein. Sie machte sich einen Kaffee, ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein: Dienstag, 11. Mai, 09:43 Uhr, verriet ihr der Teletext. Gut, knapp daneben. Nora saß auf ihrer Couch, und zum ersten Mal konnte sie nicht weinen. Sie fühlte sich bereit, den ultimativen Test anzutreten. »Kannst du dir vorstellen, mit Tobi Sex zu haben?«, fragte sie sich und betrachtete ein Foto von ihm, das auf einem der Regale stand. »Hast du Bock auf ihn?«, fügte sie mit fester und lauter Stimme hinzu. Das war Noras Geheimwaffe. Vielleicht fanden viele Leute, Sex sei überbewertet, aber für Nora machte Sex genau den kleinen, aber feinen Unterschied in der Kategorisierung »mein Freund« und »ein Freund« aus. Wenn sie nicht oder nicht mehr mit jemandem schlafen wollte, obwohl sie liebevolle Gefühle hegte, dann gab es keinen Grund, zusammen zu sein. Eine
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