Noch nicht mal alleinerziehend
Fallschirmspringen?«
»Typisch. Das ist mal wieder wichtiger, als was ich erlebt habe. Mit Mariano, einem Freund.«
»Deinem Freund?«
»Meiner Affäre, wenn du es genau wissen willst. Er ist Argentinier und echt heiß.«
»Wie alt?«
»25. Warum?«
»Phhh. Ich sag’s ja: beziehungsgestört.«
»Ich bin nicht beziehungsgestört!«
»Pass auf, Nora. Wie wär’s, wenn du einfach noch ein bisschen spielen gehst und uns Erwachsene mit deinen Ausbrüchen verschonst? Ich habe echt keinen Bock, mich von jemandem kritisieren zu lassen, der null gerafft hat, worum es im Leben geht. Und dessen größte Kunst es ist, sich über das Leben all der Spießer, die heiraten, Kinder kriegen und das echte Leben leben, lustig zu machen. Ich hab die Schnauze gestrichen voll von deiner neurotischen Selbstgerechtigkeit. Sei du so cool und gestört, wie du sein willst. Aber verschone mich. Eines Tages wirst du aufwachen und merken, dass du das Leben verpasst hast. Dann kannst du gerne wieder anrufen. Dann bin ich für dich da!«
Peng! Sophie hatte den Hörer aufgeknallt. Nora stand fassungslos in ihrem Wohnzimmer. So dachte ihre Schwester also tatsächlich über sie. Das Adrenalin wich augenblicklich aus ihrem Körper, die Wut ebbte ab und machte der Traurigkeit wieder Platz.
Der Mittwochmorgen begrüßte Nora bereits um acht Uhr. Sie hatte alles andere als gut geschlafen. Nach dem Telefonat mit Sophie hatte sie nur noch schnell ihre Mutter angerufen, eine fröhliche Stimme aufgesetzt und in Kurzversion erzählt, wie es beim Fallschirmspringen war, während sie den aufkeimenden Heulkrampf gekonnt unterdrückte. Darin war sie Profi. Sie heulte eigentlich nie viel. Sie hasste Weinen. Die Luft blieb ihr im Hals stecken, ihr Brust wurde von einem imaginären Hinkelstein erdrückt und ihr Körper zuckte wild, während unkontrolliertes Schluchzen in Tonlagen, die sie sonst nicht ihr eigen nannte, sich einen Weg nach draußen bahnte und sich Gehör verschaffte. Kaum aufgelegt, überkam es sie sofort. Was fiel Sophie eigentlich ein? Nora überlegte, ob sie ihr eventuell Unrecht getan hatte. Aber nein, Sophie hatte sie förmlich ignoriert. Heulend hatte sich Nora ins Bett verkrochen. Die ganzen Glücksgefühle waren futsch! Über diesen Gedanken musste sie eingeschlafen sein. Als sie nun aufwachte, fühlte sie sich irgendwie erkältet. Ihre Nase war verstopft, ihre Augen schmerzten und ihr Kopf war schwer. Sechs Uhr. An Schlafen war nicht mehr zu denken. Gesprächsfetzen der vergangenen Tage überschlugen sich in ihrem Kopf. »Stopp!«, rief Nora zu sich selbst. »Ich will das nicht.« Komischerweise musste sie plötzlich an Michael Douglas denken, daran, wie ihm in »Falling Down« die Nerven rissen und er Amok lief. So ähnlich fühlte sie sich gerad. Sie kroch aus dem Bett und ging ins Bad. Sie drehte den kalten Wasserhahn auf, steckte den Stöpsel in ihr Waschbecken, holte eine Ladung Eiswürfel aus dem Gefrierfach und setzte nebenbei einen Kaffee auf. Die Eiswürfel kamen ins kalte Wasser. Nora band ihr Haar zurück und ging mit ihrem Gesicht auf Tauchstation. Gut zehnmal tauchte sie auf, um nach Luft zu schnappen, bevor sie ihr Gesicht wieder im Eiswasser versenkte. Die Eiswassertherapie, die sie aus irgendeinem Bukowski-Roman geklaut hatte und die sie sonst nur bei allerschlimmsten Katern anwendete, half wahre Wunder: Danach fühlte Nora sich wach, frisch und einigermaßen Herr ihrer selbst.
Sie nahm ihren Kaffee und öffnete die Balkontür. Es war ein herrlicher Morgen: Die Sonne schien, der Himmel war blau, und die Vögel zwitscherten wild durcheinander. Zwei Meisen saßen in ihrem Vogelhäuschen und pickten fleißig am Futternetz, ohne sich von Nora stören zu lassen. Nora streckte sich. Ihr ganzer Körper schmerzte. Von den Füßen bis hoch in den Nacken meldete sich ein ordentlicher Muskelkater. Das verdankte sie wohl dem Gegenwind in der Luft, der im freien Fall mit rund 200 km/h auf ihre 57 Kilo eingewirkt hatte. Dennoch verspürte sie plötzlich einen unglaublichen Drang nach draußen. »Bewegen. Ich muss mich bewegen«, dachte sie, ging ins Schlafzimmer und zog sich eine Jogginghose, ein T-Shirt, Sportsocken, ihre Nikes und eine Kapuzenjacke an. Sie steckte sich ein bisschen Bargeld ein und griff nach ihrem Schlüssel. Walken! Nora wollte walken! Sie ging schnell, obwohl ihre Beine schmerzten. Ihre Route führte sie über die Berrenrather Straße, über den Sülzgürtel Richtung Beethovenpark. Sie hatte keine Ahnung,
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