Noch nicht mal alleinerziehend
verstanden?! Lass das Kind spielen.« Sie registrierte Karins beleidigten Blick, hatte sich aber wieder hingelegt und war fast eingeschlafen, als wildes Zusammengeräume und fliegender Sand sie weckten. Karin schüttelte gerade ihr Strandlaken aus, und Jo baute die Muschel ab. »Was ist denn?«
»Es ist ein Uhr, wir fahren ins Haus. Marc muss seinen Mittagsschlaf machen, in der Muschel kommt er nicht zur Ruhe. Bitte pack deine Sachen, Nora, wir fahren gleich los.«
Nora schaute zu Marc, der mittlerweile mit einem anderen Jungen seines Alters kleine Autos durch den Sand schob.
»Leute, der schläft doch jetzt niemals. Ob zuhause oder in der Muschel. Hier ist so viel los, der ist doch völlig in seinem Element. Und die anderen Kinder sind doch auch hier.«
»Die anderen Kinder interessieren mich nicht. Marc braucht seinen Mittagsschlaf. Weißt du, wie er ist, wenn man ihn aus seinem Rhythmus reißt? Völlig drüber, die reinste Terrormaschine. Aber was weißt du schon?!«, hatte Karin sie angefaucht.
Karin hatte Recht, Nora wusste nicht, wie Marc war, wenn man ihn aus seinem Rhythmus riss, aber sie durfte erleben, wie er war, wenn man ihn aus einem Spiel mit seinem neuen Freund riss. Marc, auf Karins Arm, wehrte sich heftig gegen die Abreise und schrie wie am Spieß, als sie wenig später mit Sack und Pack den Strand verließen. Er schrie bis drei Uhr – durchgehend. Bis Jo ihn aus dem Kinderzimmer holte und ihn in den Kindersitz neben Nora setzte und das Auto – vollbeladen – sich wieder Richtung Strand bewegte.
»Nora, fällt Ihnen noch etwas ein?«
»Gerade nicht.«
»Gut, liegt Ihnen sonst noch etwas auf dem Herzen, das Sie sagen möchten?«
»Nein.«
»Gut. Ich möchte Ihnen abschließend Folgendes mit auf den Weg geben. Die Frage ›Wer bin ich eigentlich?‹, ausgelöst durch verschiedenste Umstände und Ereignisse, führt nicht selten in eine persönliche Krise. Hat sich diese Frage erst mal einen Weg ins Bewusstsein verschafft, können wir nicht mehr so vorgehen, wie wir es gewohnt sind. Das ist ein Prozess des Innehaltens. Und auch, wenn die Einsicht mitunter schmerzt: Wir brauchen sie, um uns weiterzuentwickeln. Denn erst durch die Einsicht lernen wir unsere Handlungsstrategien, unsere Beziehungen und letztlich uns selbst besser zu verstehen. Diese Erkenntnisprozesse setzen nicht durch blindes Ausprobieren ein, sondern indem man ein Problem gedanklich umstrukturiert und neu organisiert. Emotionale Einsichten beruhen also auch darauf, die Wahrnehmungsstrukturen zu verändern. Wir sprechen dann von einer tief verinnerlichten Interpretation des Problems. Deshalb würde ich Sie bitten, darüber nachzudenken, ob Ihre derzeitige Situation tatsächlich aus dem Nichts gekommen ist. Damit machen wir dann nächste Woche weiter.« Zum Abschied bekam Nora noch einen Din-A4-Umschlag in die Hand gedrückt. »Und es wäre schön, wenn Sie mir den bis Mittwoch ausgefüllt rüberfaxen könnten, ja? Wir sehen uns dann Donnerstag, um zehn. Sollte vorher etwas sein, Sie wissen ja, Sie können mich jederzeit anrufen!«
Der Termin begleitete Nora einige Tage mit Nachwehen. Vor allem sein Ende. Nora konnte nicht sagen, ob sie das, was Rosa da gesagt hatte, gut fand oder nicht. Hatte sie Nora durch die Blume mitgeteilt, sie sei verantwortungslos? Mit Unterstellungen fühlte sich Nora gar nicht wohl, und alles in ihr bäumte sich auf. Am Wochenende war sie sogar so sauer, dass sie sich fragte, ob der ganze Beratungsscheiß überhaupt das Richtige für sie war. Oder Rosa war die Falsche. Oder beides! Trotzig vertagte sie die Bearbeitung des Fragebogens von einem Tag auf den nächsten. Erst am Dienstag war sie in der Stimmung, all die Fragen zu beantworten. Natürlich vergaß sie, ihn vor der nächsten Sitzung zu faxen, aber zumindest hatte sie ihn am nächsten Donnerstag ausgefüllt dabei. In dieser Sitzung wich ihr innerer Widerstand einem komischen Gefühl der Erleichterung gepaart mit Traurigkeit. Als Nora sich am selben Abend um 19 Uhr in einer Galerie in der Südstadt wiederfand, um mit Kim die Vernissage seiner neuen Ausstellung zu feiern, fühlte sie sich gar nicht wohl. Außer Kim hatte sie bisher nur Frauke gebeichtet, dass sie sich »in Therapie« begeben hatte. Ihren Eltern würde sie gar nichts davon erzählen. Nora wollte sie nicht damit belasten, und vor allem wollte sie sich auch die Theatralik ihrer Mutter in Form von Fragen à la »Kind, was haben wir bei dir denn bloß falsch gemacht?« ersparen. So
Weitere Kostenlose Bücher