Nochmal tanzen - Roman
gebaut. Als das Baugerüst entfernt wurde, sahen die Kirchenleute, dass Alexander nicht auf ihre Forderungen eingegangen war und den ersten Entwurf realisiert hatte. Sie waren erbost, konnten aber gesetzlich nichts dagegen unternehmen, weil Alexander eine Vertragslücke genutzt hatte.
10
Fleur rennt den Hügel hinunter, biegt beim Imbiss links ab, wirft einen Blick auf die Uhr am Warenhaus. Sie muss sich nicht beeilen. Sie wechselt auf die langsamere Straßenseite mit dem Schmuckgeschäft und dem Buchladen. Der Goldring mit dem großen, orangefarbenen Stein ist noch nicht weg. Wenn sie einmal Geld hat, kauft sie sich so einen Ring. Im Schaufenster des Buchladens sind Kochbücher aufgereiht. Sie geht daran vorbei. Auf dem Trottoir vor der Anwaltskanzlei versperrt ein Geländewagen den Weg. «Dreckschleuder.» Sie wechselt die Straßenseite. In der Parfümerie gibt es ab einem Einkauf von hundert Franken ein Set Gratisschminke. Grüner, goldener und dunkelbrauner Lidschatten in einer schwarz glänzenden Schachtel. Die Farben brächten ihre Augen zur Geltung. Wenn sie einmal Geld hat. Sie beschleunigt ihre Schritte, biegt in den Seiteneingang des Bahnhofs ein. In der Halle richtet sie den Blick zu Boden, um weniger ausweichen zu müssen.
Im zweiten Wagen sieht sie Michael. Sie setzt sich neben ihn und zieht das Infomaterial zur Aufnahmeprüfung in die Fotoklasse aus der Mappe. Eine Serie von zehn Fotos wird verlangt. Dazu ein Text, der darlegt, wie die Fotos zur Bildtradition stehen. Sie liest die Papiere ein zweites Mal durch und stupst Michael, der ins Chemiebuch vertieft ist. «Begreifst du das?» Er überfliegt den Text. «Nein. Bewirbst du dich?»
«Ja.»
«Ich habe mich für Wirtschaft entschieden. Damit habe ich die besten Chancen auf dem Arbeitsmarkt.»
«Wirtschaft?»
«Schau nicht so entsetzt.»
Sie hat einen jungen Mann mit Seitenscheitel, Anzug und Krawatte vor Augen, der ihr neulich gegenübersaß. Er sagte zu seiner Begleiterin, er sei «Junior Berater», schon bald folge der Aufstieg zum «Senior Berater». Nach ein paar Jahren könne er sich auf die Position als «Junior Partner» bewerben. Doch die strebe er in dieser Firma nur mit Aussicht auf den «Senior Partner» an, andernfalls wechsle er das Unternehmen. Er sprach die Titel wie Verheißungen aus. Fleur kann sich Michael nicht in Anzug und Krawatte vorstellen. «Willst du Manager werden?»
«Mein Ziel ist es, eine Firma zu leiten, die irgendetwas Cooles produziert. Special Effects für Filme zum Beispiel, oder Schiffe oder Flugzeuge.»
«Ach so. Ich dachte, dir gehe es ums große Geld.»
«He, Fleur, Geld stinkt nicht.»
«Aber es ist kein Lebensinhalt.»
«Ohne Geld keine Kamera, keine Wohnung, kein Segelboot.»
«Das weiß ich auch. Warum wirst du nicht Ingenieur? Du könntest Schiffmotoren entwickeln, statt sie zu verkaufen.»
«Ich bin nicht der Typ fürs stille Kämmerlein.»
Sie nimmt das Chemiebuch zur Hand und versucht, sich die Formeln zu merken. Ob es an Michaels Freundin liegt, dass er so redet? Früher interessierte er sich nicht für Geld. Als sie sich kennenlernten, machte er bei den Pfadfindern mit. Eine Firma leiten. Was macht man da? Sie sieht aus dem Fenster. Die Alteisendeponie. Noch eine Station.
Zu Hause schaut sie in den Briefkasten. Mutter ist noch nicht da. Sie schiebt die Finger durch den Schlitz und klaubt die Post heraus. Ein Brief von der Kunsthochschule. Woher wissen die, dass sie sich für ein Studium dort interessiert? In der Wohnung legt sie Schuhe und Mappe ab und öffnet den Brief.
Sehr geehrte Damen und Herren
Kulturelle Führungsaufgaben sind komplex. Die Erfüllung höchster Qualitätsansprüche bei schrumpfenden Ressourcen setzt professionelle Kompetenz voraus.
Fleur stutzt und dreht den Briefumschlag. Er ist an ihre Mutter adressiert. Mutter an der gleichen Schule wie sie? Am Morgen mit ihr im Zug, in der Pause in der Kantine. Womöglich läuft ihr Mutter über den Weg, wenn sie mit Pascal zusammen ist.
Fleur würde sie wie Luft behandeln. Selber Schuld. Wie damals, im Skilager der Primarschule. Mutter nahm gegen ihren Willen als Betreuerin teil, weil Vater keine Zeit für Skiferien hatte und Mutter nicht alleine in die Berge fahren mochte. Fleur war außer sich vor Wut. Im Lager sprach sie kein Wort mit ihr. Nach der Rückkehr heulte Mutter und schalt sie eine schlechte Tochter. Sie zerknüllt den Werbebrief und wirft ihn weg.
In ihrem Zimmer durchstöbert sie ihre Fotos. Drei brauchbare
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