Nochmal tanzen - Roman
Bilder von der Klosterkirche, drei von der Seepromenade, fünf vom Wehr, vier mit Sarah im Hotel, zwei von Sarah nackt, drei von Alice, fünf, die sie im Fotokurs in den Bergen aufgenommen hat. Eine Serie von zehn Bildern hat sie nicht. Die Haustür fällt ins Schloss. Fleur lauscht. Mutters Schritte im Treppenhaus, die Wohnungstür öffnet sich. «Hallo!» Fleur ruft zurück. Eine Papiertüte sackt zu Boden, der Schlüsselbund klirrt, die Kleiderbügel stoßen aneinander. «Ich habe Ravioli mitgebracht. Hilfst du mir mit dem Salat, bitte? Ich bin am Verhungern.» Fleur geht in die Küche und rührt Senf, Essig und Öl zu einer Sauce. «Was ist ein Text, der darlegt, wie eine Bildserie zur Bildtradition steht?» Mutter zieht eine Schublade auf. «Wie war das?» Fleur wiederholt den Satz. «Eine Bildtradition können Stillleben sein, Ikonen oder», Mutter wirft eine Handvoll Salz ins Kochwasser, «die klassische Fotoreportage, wie sie Magnum-Fotografen geprägt haben. Warum fragst du?» Fleur schält eine Zwiebel. «Um an die Aufnahmeprüfung der Fotoklasse zugelassen zu werden, muss man eine Bildserie mit Begleittext einreichen.»
«Du willst an die Kunsthochschule?»
«Ja.»
«Bist du dir bewusst, dass nur wenige Fotografen von ihrem Beruf leben können? Und noch weniger Künstler.»
«Ja.»
«Nach dem Studium stehst du mit einem Diplom auf der Straße und weißt nicht, wie du dein Leben finanzieren sollst.»
«Du machst alles schlecht.» Fleur legt die Zwiebel unter den Zwiebelhacker und schlägt darauf, dass die Anrichte bebt. Mutter lässt die Ravioli ins heiße Wasser gleiten. «Ich möchte dich nur davor bewahren, dass dir dasselbe geschieht wie mir. In deinem Alter habe ich mich auch nicht um Geldfragen geschert. Jetzt fülle ich in der Verwaltung Formulare aus.»
«Das liegt nicht am Studium, sondern daran, dass ihr zu früh ein Kind bekommen habt.»
Mutter stiert in den Kochtopf. Fleur mischt den Salat und stellt die Schüssel auf den Wohnzimmertisch. In der Küche brodelt das Wasser. «Dein Vater und ich haben uns auf dich gefreut», ruft Mutter.
Fleur blättert in Mutters Kunstlexikon. Griechische Marmorstatuen, römische Reliefs, etruskische Amphoren. Sie schlägt weiter hinten auf. Adam mit Gott, Jesus vor Kuhnüstern, Jesus mit den Jüngern, Maria an seinem Grab, Maria mit Josef, Maria mit Säugling. Ob Votivbilder eine Bildtradition sind? Sie schaut im Computer nach. Sie sind unter «Bäuerliche Malerei» aufgeführt. Sie klickt darauf, dann auf «Mirakelbuch». Ein Kloster hat eines ins Netz gestellt. Wunder auf Unglück, Unglück auf Wunder. Ein Kind verschluckte eine Muskatnuss, ein Blinder konnte nach dem Verlöbnis mit der Heiligen Maria wieder sehen, eine Frau gebar ein Kind, ein Mann fand keine Frau, eine Gehbehinderte verließ die Wallfahrtskirche ohne Krücken, ein Mann fand eine Frau, ein Bär kam ins Dorf, ein Kalb stand auf, eine Frau gebar kein Kind mehr, einer Jungfrau wuchs ein Bart. Was? Sie liest die Übersetzung des althochdeutschen Eintrags über die Heilige Kümmernis: Der heidnische Vater einer jungen Christin wollte, dass seine Tochter einen Ungläubigen heiratet. Sie flehte Maria an, sie möge sie davor bewahren. Doch der Tag, an dem der Mann um ihre Hand anhalten sollte, rückte näher, ohne dass etwas geschah. Also setzte sich die fromme Jungfrau in die gute Stube und betete, bis der Mann eintrat. Kaum hatte er sich neben sie gestellt, wuchsen ihr Haare im Gesicht, worauf er das Weite suchte. Tage später ließ der Vater seine Tochter kreuzigen. Weil ihr Bildnis danach Wunder wirkte, wird sie als Heilige Kümmernis verehrt.
Was alles da steht. Alles kann ein Unglück sein. Motive werden sich finden lassen für ihre Fotos. Aber wie kommt Maria ins Bild? Neben Fleur fächern sich die Lexikonseiten auf. Sie will das Buch zuklappen, als ihr ein Bacchus mit nacktem Oberarm ins Auge sticht. In der rechten Hand hält er einen Zweig Trauben wie eine Hantel. Irritiert schaut sie genauer hin. Der Bizeps ist aufgemalt. Auch der Schmutz am Daumen, die Schatten an der Nase und die Fältchen um den Mund sind geschminkt. Ein bemalter Mensch, kein Gemälde. Sie liest die Bildlegende. Die Künstlerin inszeniert und fotografiert sich im Stile alter Malerei. Fleur blättert auf die nächste Seite. Dieselbe Künstlerin als Clown, als Leiche, als stillende Maria. Alles gestellt und fotografiert. Sie streckt sich. So geht es.
Alice schaltet das Radio ein und setzt sich mit Bleistift und
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