Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
noch sagen?“ Sara blickte Ruth über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg an. Ihre Chefin zuckte mit keiner Wimper. Sie hatte ein professionelles Pokerface aufgesetzt und es lag in der Natur der Sache, dass das so ziemlich alles bedeuten konnte. Ihr Gegenüber nicht durchschauen zu können, verunsicherte Sara.
„Nenn es Visionen“, sagte sie. „Nenn es Spinnerei. Es ist mir egal. Aber wenn ich diese Träume habe, ist es nicht so, als würde ich träumen. Ich erlebe es so deutlich, wie ich das hier erlebe.“
„Du sagtest, du siehst nur Etappen?“ Ruth goss heißes Wasser über ihre Pfefferminzblätter und gab Kandis dazu. Bei dieser Frau war jede Geste akkurate Perfektion. Es gab Tage, an denen Sara diese Überko r rektheit den letzten Nerv raubte. Zum Beispiel heute. „War das nicht so?“
„Ja. Aber die Erinnerung an alles dazwischen ist genauso lebendig. Es ist ein anderes Leben. Oder sagen wir“, räumte sie ein, „es ist wie ein anderes Leben.“
„Du vermutest also, die Reinkarnation von Cynthia Ann Parker zu sein?“ Jetzt klang ein unüberhörbarer Hauch von Belustigung in ihrer Stimme mit. „Und dein gutaussehender Fremder aus dem Museum ist Nocona, legendärer Kriegshäuptling der Comanchen und Vater von Quanah Parker, dem berühmten Freiheitskämpfer?“
Sara stöhnte auf. „Es klingt idiotisch, wie du das sagst. Ich habe keine Ahnung, okay? Das alles überfordert mich genauso wie dich. Ach ve r dammt, ich hätte dir nichts davon erzählen sollen. Vergiss es einfach, ja? Tu mir den Gefallen.“
Ruth räusperte sich ein paar Mal. „Du musst zugeben, Liebes, es klingt abgefahren. Aber spannend ist es allemal. Ich hatte anscheinend den richtigen Riecher, als ich dich für dieses Projekt einteilte.“
„Spannend? Du findest das spannend?“ Sara spießte eine Spur zu ru p pig ihre Tomate auf, die ihr durch diese rüde Behandlung fast vom Teller hüpfte. Sie bestellte niemals Salat. Warum tat sie es heute? Egal. Vermu t lich war es ein Instinkt, der ihr einflüsterte, dass jedes üppigere Mahl zu schwerwiegenden Verdauungsproblemen führen würde. Seit diese sel t samen Dinge geschahen, war alles an und in ihr sensibilisiert. Ihre G e fühle spielten verrückt, ihr Kreislauf spielte verrückt und ihre Ho r mone trieben sie in den Wahnsinn. Bilder durchzuckten sie, selbst wenn sie wach war. Eindrücke , die nicht in diese Zeit gehörten. Es war skurril, hier zu sitzen und draußen auf dem Hudson River die Lic h ter der Stadt widergespiegelt zu sehen. Sie war eine Fremde in ihrem eigenen Leben.
„Du weißt, dass mein Spezialgebiet in der Kultur der Khmer liegt.“ S a ra verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sich zurücksinken. „Ich habe mich lange für nichts a nderes interessiert. Aber dann stand ich vor Quanahs Grabstein und … shit, ich kann es nicht beschreiben. Alles veränderte sich. Stell dir vor, du besuchst nach Jahrzehnten die Ruhestä t te deines vor langer Zeit verstorbenen Kindes. Genauso fühlte ich mich, als ich bei Quanah war. Da war dieser Schmerz in mir. Dieser gewaltige Verlust. Alt und vernarbt, klar, aber verdammt echt.“
„Das klingt kryptisch.“ Ruth wiegte nachdenklich den Kopf. Die Ske p sis, die dieser Geste anhaftete, wurde durch das faszinierte Funkeln in ihren Augen gemildert. „Und dein geheimnisvoller Fremder hat ebenfalls Visionen? Habe ich das richtig verstanden?“
„Ja, und deswegen muss ich ihn wiedersehen, verstehst du das? Ich brauche Antworten. Wenn es ihm genauso ergeht wie mir, muss etwas dran sein. Wir haben uns vorher nie gesehen, und dann steht er plötzlich vor mir und ich habe das Gefühl, ihn schon ewig zu kennen.“
Ruth öffnete den Mund zu einer Erwiderung, doch Sara verlangte mit einer wedelnden Handbewegung ihr Schweigen. „Ich weiß , was du denkst“, setzte sie hinzu. „Das ist ein furchtbar abgedroschener Spruch. Aber es ist so. So und nicht anders. Als ich Makah das erste Mal sah, vergaß ich alles um mich herum. Du kennst mich, Ruth. Ich werde nicht mal nervös, wenn vor mir die Kontinentalplatte auseinanderbricht. Aber als ich vor diesem Mann stand, fiel ich aus allen Wolken.“
„Bei seinem Anblick wäre ich auch aus allen Wolken gefallen.“ Ruth rührte in ihrem Pfefferminztee, als wollte sie ein Loch durch den Boden der Tasse graben. „Das klingt wirklich alles ganz aufregend, aber verrenn dich nicht in eine Sache, die dir leicht über den Kopf wachsen könnte. Du bist eine starke Persönlichkeit, aber
Weitere Kostenlose Bücher