Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
dein Bruder? Er sah dir überhaupt nicht ähnlich.“
Sie stützte ihre Ellbogen auf den Knien ab und ließ den Kopf hängen. Ihre Gefühle verwirrten sie. Sie wünschte sich, John noch einmal in ihre Arme schließen zu können, und zugleich fürchtete sie sich davor, ihn wiederzusehen. Denn das hätte bedeutet, noch einmal diese ungeheuerliche Bitte zu hören.
Komm mit mir, Naduah. Verlass das Dorf. Verlass dein Leben.
Du bist noch immer ein Feind dieses Volkes.
„Er war mein Bruder“, antwortete sie. „In einem anderen Leben.“
„Euer Gespräch war nicht gut?“, schlussfolgerte Makamnaya aus ihrer Miene. „Habt ihr euch gestritten?“
„Nein. Ja. Ich weiß es nicht.“
„Sieh dir diese Dummköpfe an.“ Er ging nicht weiter auf das Thema ein, als spürte er, wie weh es ihr tat. Stattdessen deutete er auf Nocona und Icabu, die mit Feuereifer aufeinander einschlugen. „Man könnte meinen, sie sind nur zufrieden, wenn sie kämpfen können. Wenn du mich fragst, macht ein gutes Feuer und eine Handvoll Süßigkeiten glücklicher als jede Kriegslust.“
Makamnaya lächelte. Sein Gesicht strahlte eine solch sanftmütige Freundlichkeit aus, dass sie sich am liebsten weinend an ihn geworfen hätte. Wären alle Menschen so gutmütig wie dieser Mann, wäre die Welt das Paradies, nach dem die Gelben Haare so verzweifelt suchten.
„Icabu wird es nie begreifen.“ Makamnaya bot ihr Walnuss-Pemikan an und zuckte, als sie dankend ablehnte, verständnislos mit den Schultern. „Wie kann man so was ausschlagen? Na, was soll’s. Siehst du, was er falsch macht, das verrückte Wiesel?“
Sie beobachtete die beiden Kämpfer. Ihr geschmeidiges Zusammenspiel war die reinste Augenweide. Ein anmutiger, urtümlicher Tanz aus Kraft und Schnelligkeit. Wie Berglöwen umkreisten sie einander, gingen zum Angriff über, parierten oder wichen aus. Beide besaßen als Waffe nur eine stumpfe Lanze, die ausschließlich zu Übungen diente. Noch wirkte der Kampf spielerisch, doch schnell änderte sich die Stimmung. Während Nocona seine unnachahmliche Ruhe bewahrte und jede Bewegung mit Bedacht vollführte, kochte Icabus’ Temperament über. Fluchend wirbelte und sprang er umher, bis seine zuvor präsentierte Anmut gänzlich in wildem Gezappel unterging. Mit jedem ins Leere gehenden Schlag wurde sein Zorn größer.
„Er fuchtelt mit seiner Lanze, als wollte er Vögel verscheuchen.“ Makamnaya schüttelte missbilligend den Kopf. „Und er hüpft wie ein wild gewordener Hase. Wenn er sich so im Krieg verhält, werden seine Feinde sterben, weil sie sich totlachen.“
Nocona parierte die wütenden Angriffe seines Freundes mit würdevoller Miene. Fast machte es den Anschein, als ärgerte ein Vater sein unbeherrschtes Kind.
„Lausige Ratte!“ Icabu sprang in die Höhe wie eine Antilope, der man einen Pfeil in den Hintern geschossen hatte. Er drehte sich noch im Sprung und schlug mit der Lanze nach Nocona. Ein zweifellos spektakulärer Angriff, doch als die Wucht desselben ins Leere ging und sich gegen Icabu selbst richtete, landete er der Länge nach im Schnee.
„Deine Wut macht dich blind.“ Nocona bot ihm seine Hand an. „Du musst lernen, dich zu beherrschen. Du musst lernen, dass die beiden größten Tugenden eines Kriegers aus Geduld und Körperbeherrschung bestehen.“
„Bring mir richtige Waffen, Makamnaya!“ Icabu schlug die Hand seines Freundes beiseite und rappelte sich zähneknirschend hoch. „Ich will dieses Stachelschwein in Stücke hacken.“
„Nocona hat recht.“ Der Angesprochene stellte die Pemikan-Schüssel auf den Boden und zupfte, während er eine unbeteiligte Miene zur Schau trug, an seinem Hirschgrannen-Armreif. „Du machst die Augen zu, prügelst blindlings drauflos und schaust anschließend nach, ob du zufällig getroffen hast. Das ist der Stil eines Präriehundes, nicht der eines Wolfes.“
„Das sagt jemand, der lieber die Hügel hinunterrollt, anstatt zu gehen?“ Icabu griff nach seiner Lanze. Nocona nutzte die Gelegenheit zu einem Angriff, doch sein Freund schien den Zug vorausgesehen zu haben. Er fing den Schlag ab, vollführte eine komplizierte Drehung und traf ihn im Nacken. Mit leisem Stöhnen sackte er in den Schnee, während Icabu schreiend und johlend in einen grotesken Kriegstanz verfiel.
„Was soll das?“ Naduah eilte zu dem reglos daliegenden Nocona. „Musste das sein?“
„Krötenechse!“, blaffte Icabu nur und winkte ab.
„Das klären wir im Kampf. Falls du dich traust,
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