Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
Ewigkeit her, dass sie so mit ihrem Vater geredet hatte. Ihre Augen brannten in Erinnerung an bessere Zeiten. Nein, sie wollte nicht weinen. Weinen brachte nichts ein, nur Vaters Wut und Mutters Traurigkeit. „Sie trugen Federn und bunte Perlen auf ihren Hemden. Ihre Haut sah aus wie Bronzeschmuck. Ihre Haare waren wie Rabenfedern. Ganz nah bin ich an ihnen vorbeigegangen . Sie haben mich angelächelt, Vater. Und gestunken haben sie auch nicht, wie der Barbier sagt. Nur nach Pferd. Der Barbier, Vater, der stinkt schlimmer.“
„Halt den Mund!“ Er hob seine klobige, blutbefleckte Hand.
Plötzlich war er wieder so, wie sie ihn kannte. Vielleicht war ein böser Geist in ihn gefahren, so wie in manchen Märchen. Vielleicht war es gar nicht Vater, der sie schlug und mit ihr schimpfte. Ja, bestimmt war es so.
„Ich will nicht, dass meine Tochter sich über solche Kreaturen G e danken macht. Sprich lieber deine Gebete, bevor Gott uns noch mehr bestraft. Und bedenke, dass sie sogar kleinen Mädchen wie dir den Skalp nehmen.“
„Aber wir bezahlen doch auch Geld für die Skalps ihrer Kinder. Sind wir dann nicht genauso schlimm?“
„Das ist etwas anderes!“ Vater schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Der laute Knall ließ jeden Anwesenden zusammenzucken. „Wir gehen auf Gottes Wegen. Und wenn ich noch einmal so etwas höre, bekommst du den Gürtel zu spüren.“
„Sie würden ihr bestimmt nichts tun“, warf John kleinlaut ein. „Weil sie so schöne himmelblaue Augen hat.“
„Ich habe keine himmelblauen Augen.“ Cynthia fühlte Wut a ufsteigen. Mochte Vater sie ruhig schlagen und in den Hühnerstall sperren. Dort stank es nicht so schlimm wie hier. Und wenn er seinen bösen Geist an ihr ausließ, würde er wenigstens Mutter und John in Ruhe la s sen. „Sag so etwas nie wieder.“
„Hast du wohl. Sie sind blau. Wie der Himmel.“
„Meine Augen sind schwertlilienblau. Hast du gehört? Schwertlilie n blau!“
„Hört auf, verdammt. Ihr macht mich wahnsinnig.“
Vater erhob sich grunzend wie ein Wildschwein. Mit Schrecken sah Cynthia, wie seine Hand kurz an der Schulter ihrer Mutter rüttelte. Ihr war klar, was das bedeutete. Und ihr war klar, dass er keinerlei Wide r spruch duldete. Ohne auch nur den Hauch eines Gefühls zu zeigen, unterbrach Mutter den Abwasch, ließ den Lappen in die Schüssel fallen und folgte ihrem Mann. Ob sie irgendetwas Dummes tun sollte, damit Vater sie schlug und ihre Mutter vergaß? Ihr fiel die Porzellanschüssel ins Auge. Sie könnte sie nehmen und auf dem Boden zerschlagen.
„Passt du bitte auf Elenore auf?“ , sagte Mutter. „Ich bin bald zurück. Sei brav, hörst du?“
Cynthia zwang sich zu einem Nicken. Stocksteif stand sie da, lauschte auf die sich entfernenden Schritte und das Geräusch der zufallenden Schlafzimmertür. Oh ja, sie würden weglaufen. Gleich morgen.
Zitternd vor Wut kratzte sie mit dem Löffel im Topf herum, während tausend Gedanken ihren Kopf überschwemmten. Was würde aus Großmutter werden? Sollten sie eine Trage aus Ästen bauen, sie darauf legen und mitnehmen? Was, wenn sie draußen in der Prärie auf Indianer stießen? Und was, wenn ihr Onkel sie nicht aufnehmen wollte?
Während sie Pläne schmiedete, verwarf und neu ordnete, kauerte John auf dem Boden und spielte mit seinem Holz. Lustlos schob er die Stöc k chen von links nach rechts.
Schnell war der Abwasch erledigt, und als alles Geschirr im Schrank verstaut war, setzte sie sich zu Großmutter und sang ihr leise etwas vor. Elenore reagierte nicht. Minuten verstrichen, eine V iertel s tunde ging vorbei, dann eine halbe Stunde. Selbst die Uhr an der Wand schien von einem bösen Geist besessen zu sein. Am liebsten wäre sie an Ort und Stelle eingeschlafen, um das Leben zu vergessen, wäre da nicht der G e danke gewesen, dass Vater noch immer mit Mutter allein war.
Sie verschränkte die Arme auf dem Tisch, legte den Kopf darauf ab und murmelte ihre Gebete. Eine gewaltige Sehnsucht rumorte in ihrem Bauch. Sie wollte hier raus. Einfach nur raus.
„Ein Pferd!“ Johns Stimme ließ Cynthia hochschrecken. „Hast du es gesehen? Da war ein buntes Pferd.“
„Bunt? Du siehst wohl Gespenster.“
„Nein!“ John ging zum Fenster, legte beide Hände um seine Augen wie ein Trichter und starrte in die Nacht hinaus. „Da war ein Pferd. Ich habe den roten Handabdruck auf seinem Hinterteil gesehen. Sieh mal, da ist noch eins!“
Ein Laut kam aus seinem Mund, der klang wie ein Schrei
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