Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
einem Lächeln?“ fragte Naduah.
„Ja. Sie sangen gemeinsam das Totenlied, als sie in die andere Welt gingen. Sie waren stark und furchtlos.“
Naduah zwang sich zu einem Lächeln. Mit bebenden Fingern zog sie das Messer aus ihrem Gürtel.
„ Bitte l ass mich allein . Ich will um meinen Vater und meine Mutter trauern. Und um alle anderen, die ihr Leben gegeben h a ben.“
Der Krieger nickte wortlos, schwang sich auf sein Pferd und ritt d a von. Schnell wurde seine Silhouette vom flimmernden Atem der Hitze verschlungen. Naduah begann zu singen. Sie wiegte sich vor und zurück, langsam und hypnotisch, während sie ihren Geist für die Erinnerungen eines ganzen Lebens öffnete.
Mit dem Messer schnitt sie Wunden in ihre Unterarme. Blut tropfte auf die staubtrockene Erde. Alles, was sie fühlte, waren unwirkliche Bruchstücke von Schmerz. Zerrissen hing der Poncho um ihre Schu l tern, verfilzt war ihr Haar. Noch immer besudelt von Hukas und Makamnayas Blut. Sie griff danach, nahm eine Strähne zwischen ihre ve r krusteten Finger und schnitt sie ab. Eine zweite folgte, eine dritte. Bis ihr hüftlanges, goldbraunes Haar neben ihr lag, ein Symbol für das L e ben, das verloren war. Das Leben, in dem Mahtos Liebe sie begleitet hatte. In dem sie an Hukas Seite gelacht und geweint hatte. Sie wiegte sich in e i nem monotonen Rhythmus, bis alles Körperliche gleichgültig wurde und sie die Welt durch die Augen eines Geistes sah.
Hundert Pferde. Die glücklichsten Tage ihres Lebens. Ein Feuer in den südlichen Wäldern. Der Geruch dämmerigen Sumpfes, das Spiel einer Flöte.
„Und was schließt du daraus, wenn hier irgendwo Spuren eines Menschen aufta u chen?“
Sie grinste. „Dass es kein Nunumu gewesen sein kann.“
„Warum?“
„Weil ich seine Spuren sehe.“
Das Wasser des Flusses gluckerte träge. Insekten umschwärmten Wanapins Fell. Siyo schüttelte den Kopf, trottete zum Fluss hinunter und trank. Naduah hörte die Stimmen und das Lachen im Zelt ihrer Eltern, heranwehende Fetzen aus der Vergangenheit.
„Selbst wenn er mit dreimal so vielen Pferden gekommen wäre, würde Mahto mit ihm verhandeln. Kein Vater gibt seine Tochter freimütig her. Er zeigt damit, wie schwer es ihm fällt. Was vermutlich bedeutet, dass er morgen Abend noch da draußen steht.“
Als die Nacht kam, rollte sie sich unter einem Baum zusammen. Den Horizont im Blick, jederzeit bereit, die Flucht zu ergreifen, gönnte sie ihrem Geist oberflächliche Ruhe.
Der Morgen kam, ein weiterer Tag verging. Sie badete im Fluss, jagte Vögel und Präriehunde, träumte von Mahto, Huka und Nocona, träumte von dem, was sein würde, und als zwei weitere Tage verstrichen waren und sie noch immer allein am Fluss saß, wurde der Schlaf so übermäc h tig, dass sie sich nicht länger dagegen wehren konnte.
In der kochenden Hitze des Nachmittages sank sie im Schatten einer Pappel zusammen und spürte, wie felsenschw e re Dunkelheit auf sie sank. Naduah wurde von ihr schier in den Boden gedrückt. Sti m men umsäuse l ten sie. Nocona, Quanah, Huka und Mahto. Sie alle waren bei ihr. Öffneten sich ihre Augen, dann nur, um nach wenigen Mome n ten wieder zuzufallen. Niedergedrückt von E r schöpfung und Müdigkeit.
Die Sonne stand hoch, als sich jemand über sie beugte. Ein neuer Tag musste herangebrochen sein. Der Schatten griff nach ihr und zog sie hoch. Ungläubiger Schrecken drang durch die Betäubung ihrer Müdi g keit, doch dann sah sie, dass es kein Weißer war. Es war ein Mann vom Volk. Und er sah aus wie … nein … ihre Augen mussten sie täuschen. Oder doch nicht?
„Erkennst du mich nicht? Rede mit mir, mein Blauauge . Was ist pa s siert? Rede mit mir!“
Sie öffnete den Mund, wollte schreien vor Freude, doch ihre Kehle war rau wie die ausgedörrte Erde. Er war wieder bei ihr. Er war zurüc k gekehrt! Oder narrte sie nur die Hitze der Sonne, die ihr schon oft Sti m men und Bilder vorgegaukelt hatte?
„Ich bin hier. Du bist nicht mehr allein. Hörst du mich?“
„Nocona“, brachte sie endlich hervor. „Nocona.“
Sie murmelte den Namen wie ein Gebet. Wieder und wieder. Ihre Be i ne zitterten, wollten sie kaum tragen. Wie lange hatte sie geschlafen? Warum war sie so schwach? Behutsam wusch er den Dreck von ihrer Haut, brachte sie zum Lager zurück, bedeckte ihre Wunden mit zerri e benen Heilkräutern und verband sie neu . Dann flößte er ihr einen Honigsud ein, den er über einem hastig entfachten Feuer gekocht hatte. Nad u ah
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