Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
mir durch das Haar weht, weiß ich, dass du dich in meinem He r zen bewegst.
Sie massierte sich die Nasenwurzel. Versuchte, alle Gedanken an Makah und an ihre Träume beiseite zu wischen. Ein klarer Kopf war das, was sie brauchte. Doch mit jedem Atemzug fiel es ihr schwerer, sie selbst zu bleiben. Ein Schleier legte sich vor ihre Augen. Selbst, als sie blinzelte, verschwand er nicht.
Frà Martino, campanaro . Dormi tu? Dormi tu ? Suona le campane, suona le ca m pane ! Din don dan, din don dan.
Eine Kinderstimme erklang. Cynthias Stimme. Leise sang sie, lieblich und verwunschen. Wie zarte Vögel erhoben sich ihre Worte. Etwas packte Sara und stieß sie zu Boden. Ein Schrei gellte. Ihr eigener. Jahre vergingen, ganze Jahrzehnte. Sie sah einen wirbelnden Fluss aus b e schleunigter Zeit, der sie fortriss und durch ein stilles Universum schle u derte. Unter ihren Händen fühlte sie staubige Holzdielen. Ein Schmerz loderte in ihrer Brust, der unbeschreiblich war. Sie weinte, wie nur ein Mensch ohne Hoffnung weinen konnte. Sie schrie, wimmerte und schluchzte, geschüttelt von Krämpfen, die ihre Seele zerreißen wollten. Wie von Sinnen zerkratzte sie das Holz, bis ihre Nägel sich vom Fleisch lösten und Blut das Holz tränkte. Schwindel übermannte sie. Kraftlos kippte sie zur Seite. Verschwommen erkannte Sara eine Frau, die ein Kind in ihren Armen hielt. Seltsam war sie gekleidet, in ein braunes Kleid mit Schürze, und ihre Haare waren bedeckt von einer Haube, wie man sie seit hundert Jahren nicht mehr trug. Das Mädchen in ihren Armen konnte kaum älter sein als fünf Jahre. Es war aschfahl, seine Lippen blau. Der Tod hatte es genommen. Es war ihr Kind. Ihre Tochter.
„Nein!“ Sara schrie dieses Wort mit aller Kraft hinaus. Blut tropfte von ihren zerschundenen Händen, doch sie spürte keinen körperlichen Schmerz. Schon lange nicht mehr. „Nein, nein, nein!“
Ein schwarz gekleideter Mann kam auf sie zu. Der Pastor. Sein Blick war unbeseelt und streng. „Finde zurück zu Gott. Höre sein Wort. Lass dich erlösen.“
Sie sprang auf ihn zu, stieß ihn mit übermenschlicher Kraft beiseite und entriss der Frau das tote Kind. Dann rannte sie. Rannte wie von Furien gejagt aus dem Haus und der offenen Weite der Prärie entgegen. Dort draußen hinter dem Horizont wartete er und suchte nach ihr. Seit so vielen Jahren. Sie musste es schaffen! Sie musste! Alles würde gut werden, wenn sie wieder zu Hause war. Bei ihrer einzig wahren Familie.
Sie musste laufen. Immer weiter laufen. Niemals würde man sie wieder einsperren. Ihre Beine waren einst stark gewesen, damals, als sie mit dem Wind gerannt und mit dem Sturm geritten war. Doch jetzt, nach langen Jahren der Trauer und des Gefangenseins, versagten sie ihr den Dienst.
Sara stürzte. Das Kind glitt aus ihren Armen und rollte über staubige Erde. Entsetzen durchfuhr sie. Hatte Topsannah sich wehgetan? Nein, sie weinte nicht. Lag ganz still da. Tapfere Kleine. Sie wollte zu ihrer Tochter hinüberkriechen, doch jemand packte sie bei den Schultern. Sara kreischte und schlug um sich. Niemals würde sie zurückgehen. Niemals. Lieber starb sie an Ort und Stelle. Ihr Leben war dort draußen. Dort, wo ihre Seele frei atmen konnte. Nur deshalb war Topsannah krank. Sie musste zurückkehren, um ihre Tochter zu heilen.
„Liebes, so kommen Sie doch zu sich. Hören Sie mich? Alles ist gut.“
Sara riss die Augen auf. Sie stürzte, wurde aufgefangen und an einen weichen Körper gedrückt. Da war keine Frau mit einer Schürze. Kein krankes Kind. Keine brüllenden Männer, die sie packten und zurück in ihr Grab brachten. Es war Anna.
„Was ist mit Ihnen? Sagen Sie doch was. Geht es wieder?“
Sara blinzelte. Was war geschehen? Warum lag sie auf dem Boden? Und – großer Gott! – warum bluteten ihre Hände? Die Haut an den Fingerspitzen war aufgescheuert, die Nägel eingerissen. Wie war das möglich? Sie musste sich beim Sturz verletzt haben. Aber es waren nicht die Wunden eines Sturzes. Langsam, sich freikämpfend aus der Betä u bung, kam der Schmerz. Er wuchs und wuchs, bis ihre Finger in Fla m men standen.
„Alles okay“, presste sie hervor. „Es geht schon wieder.“
Hatte To p sannah sich wehgetan? Nein, sie weinte nicht.
Lag ganz still da. Tapfere Kleine.
Großer Gott! Sara hielt sich den Kopf und schwankte.
„Kind, Sie bluten ja wie verrückt. Ich rufe besser einen Arzt. “
„Nein.“ Mühsam kämpfte sie sich auf die Füße, gestützt von Annas Armen.
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