Nocturne City 01 - Schattenwoelfe
Zwischenzeit hatte man Stephen aus dem Revier ins Bezirksgefängnis verlegt, wo die Polizeibeamtin am Einlass nur einen flüchtigen Blick auf meine Marke warf und mir dann das Anmeldeformular zuschob, bevor sie sich wieder in ihr Kabuff verzog.
Danach passierte ich einen Metalldetektor und wurde auf der anderen Seite von einer ähnlich schlecht gelaunten Beamtin empfangen, die mich noch mal mit einem Handdetektor abtastete, bevor sie mich durch zwei Tore führte und ins Vernehmungszimmer brachte. Kurz nachdem ich dort war, wurde Stephen hereingeführt. In seinem orangefarbenen Gefängnis-Overall machte er einen jämmerlichen Eindruck.
„Was wollen Sie?“, sagte er zur Begrüßung und ließ sich in den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches plumpsen.
Ich hatte meine Requisiten griffbereit und schob ihm als Antwort auf seine Frage ein Tatort-Bild vom Mord an Lilia über den Tisch zu. Er warf einen Blick auf das Bild und lehnte sich dann zurück.
„Kenn ich nicht, die Frau.“
Ich nahm das Foto und hielt es ihm direkt vors Gesicht. „Schauen Sie noch mal hin. Sie kennen sie!“
Mit einer schnellen Handbewegung schlug er das Foto zur Seite. „Ich hab gesagt, ich kenn sie nicht, also kenn ich sie auch nicht. Was ist los mit euch? Marina hab ich übrigens auch nicht umgebracht.“ Er wandte seinen Blick von mir ab und senkte den Kopf. „Warum glauben Sie mir nicht?“
„Wenn ich jemanden blutverschmiert neben einer Leiche sitzend finde, dann macht das diese Person verdammt verdächtig. Besonders, wenn dieser jemand gleich mit zwei Frauen hintereinander in die Kiste springt und beide ermordet werden. Das ist eine verdammt miese Quote, Kleiner. Verdammt mies.“
„Ich habe nichts mehr zu sagen“, erklärte Stephen und starrte schweigend auf den Metalltisch zwischen uns. Ich ließ dem Schweigen Zeit, sich auszubreiten, und ging derweil die armselige Liste meiner Verdächtigen durch. Zuerst war da Dmitri, der es zwar getan haben könnte, es faktisch aber nicht gewesen ist. Davon war ich mittlerweile felsenfest überzeugt. Dann war da noch Stephen, ein nach gegenwärtiger Aktenlage verzogener, sexuell gestörter Sado-Junkie. Und zu guter Letzt gab es noch den gesichtslosen Mörder, der weiterhin frei herumlief und eine blutige Spur hinter sich herzog, in der man über Jahrzehnte hinweg immer wieder verstümmelte Frauen gefunden hatte. Ich wusste, dass diese Personen alle miteinander verbunden waren. Ich wusste nur noch nicht, wie, und das machte mich langsam wahnsinnig.
„Im Raven haben Sie mir gesagt, dass der Werwolf Marina getötet hat“, sagte ich und brach damit das Schweigen. „Ist dieses Mädchen auch von dem Werwolf getötet worden?“ Für die bevorstehende Lüge musste ich tief Luft holen. „Ich habe einen Zeugen, der Sie wiederholt mit dieser Frau gesehen hat, Stephen, und außerdem gibt es erdrückende Beweise, die auf Sie als Mörder hindeuten. Sie sollten eigentlich wissen, dass es Ihnen im Prozess nur schaden wird, wenn Sie mich jetzt anlügen.“
Es war zwar nicht die feine Art, aber Stephen musste nicht wissen, dass Dmitri Lilia nie zu ihren Rendezvous gefolgt war und ihn daher auch nie gesehen hatte. Verhöre liefen nicht immer sauber ab. Manchmal ging es einfach nur darum, eine Reaktion beim Gegenüber zu provozieren. Hin und wieder war es in diesen Gesprächen so, als würde man ein Krokodil mit einem spitzen Stock wieder und wieder in die Seite stupsen … irgendwann würde es schon zuschnappen.
Als ich behauptete, dass ihn jemand beobachtet hatte, durchfuhr Stephens Körper ein leichtes Zucken. Die für Anwälte typische Abgebrühtheit schien in der Familie der Duncans nicht vererbt worden zu sein.
„Ich habe nichts mehr zu sagen“, wiederholte er. Dann atmete er tief ein und sagte in einem abfälligen Ton: „Ich hab die Schlampe noch nie gesehen.“
Ich sprang auf, packte Stephen im Nacken und rammte sein Gesicht in die Tischplatte. Dann presste ich seinen Kopf auf das Tatortfoto. „Ihr Name war Lilia Desko. Sie wurde mit Drogen vollgepumpt, verstümmelt und dann in einer Seitenstraße liegen gelassen, wo sie verblutet ist. Schauen Sie sie genau an“, schrie ich den in meinem Griff zappelnden Sohn des Bezirksstaatsanwalts an. „Sie war nicht nur ein Körper. Sie war ein Mädchen mit einer Zukunft, und jemand hat sie geliebt. Sie haben ihr das angetan, und es wird Ihnen nicht gelingen, das vor mir zu verheimlichen.“
Als ich ihn losließ, sprang er zitternd mit einem Satz
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