Nocturne City 01 - Schattenwoelfe
aus meiner Reichweite. „Ich bin es nicht gewesen!“, schrie er. Die Maske des souveränen Anwaltssohns aus besserem Hause hatte einen Riss bekommen, und in seinen Augen lag nun die wilde Verzweiflung, die ich schon im Hotel Raven gesehen hatte.
„Dann sagen Sie mir, wer es getan hat, Stephen“, fuhr ich ihn an.
Noch bevor ich zu Ende gesprochen hatte, schüttelte er wild den Kopf. „Das kann ich nicht!“
„Was können Sie mir dann sagen? Bis jetzt sind Sie für mich der Täter, Stephen!“
Er holte kurz Luft. „Wir sind ausgegangen, Lilia und ich.“
Endlich redete er. „Wie lange waren Sie ihr Kunde?“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Vielleicht sechs Monate? Seitdem ich wieder in die City gezogen bin, um bei meinem Vater zu wohnen.“ Er rieb sich die Gelenke unter den Handschellen. „Sie war irgendwie süß und auch dumm … recht vertrauensselig für eine Nutte … ich meine, eine Prostituierte.“
Vertrauensselig genug, um sich die aufgezogene Spritze eines Fremden in den Arm zu jagen? „War Lilia drogenabhängig?“
Er nickte. „Sie hat Crystal Meth gespritzt, glaub ich. Manchmal haben wir auch zusammen gekokst.“ Stephen biss sich auf die Lippe und schien plötzlich von einem schlechten Gewissen geplagt. „Oh mein Gott, erzählen Sie das bitte nicht meinem Vater.“
„Ich trag kein Halsband mit einem Glöckchen dran, Stephen.
Sie können sich also ziemlich sicher sein, dass ich nicht eins der Schoßhündchen unseres Bezirksstaatsanwalts bin.“
„Sie wollte damit aufhören“, sagte er und seine Gesichtszüge entspannten sich ein wenig. „Hatte an diesem kostenlosen Entzugsprogramm der Stadt teilgenommen. Aber ambulant. Es war ziemlich hart für sie. Die Typen haben sie auf kalten Entzug gesetzt, und sie war unendlich frustriert. Dann hat sie wieder angefangen und dauernd geheult und Theater gemacht. Ehrlich, Detective, das war verdammt nervtötend.“
Duncan senior war ein unglaublich harter Hund, ein aalglatter und mit allen Wassern gewaschener Anwalt, der sich nichts anmerken ließ. Duncan junior hingegen war zwar nicht weich wie Butter, aber chaotisch und ohne klare Richtung – aggressiv, nostalgisch, verärgert – alles in einem Satz. Ich hätte ihm nur zu gern mal etwas wirklich verdammt Nervtötendes gezeigt, aber dazu hätte ich ihm einen Spiegel vors Gesicht halten müssen.
„Mag sein, aber immerhin hatte sie einen Mann, der hinter ihr stand“, sagte ich und dachte an Sandovsky.
„Ach ja, ihr Freund“, prustete Stephen. „Ganz schöne Lusche, der Typ.“
Mir war klar, dass es der Sache nicht helfen würde, wenn ich Stephen darüber aufklärte, dass Dmitri mehr Mann war, als er sich an einem guten Tag hätte erträumen können. So fragte ich ihn nur: „Wann haben Sie Lilia zuletzt gesehen?“
Er zuckte wieder mit den Schultern. „Vor drei Wochen, glaub ich. Marina wurde langsam eifersüchtig.“
„Falsch, Stephen“, unterbrach ich ihn. „Mein Zeuge sagt, dass Sie Lilia in der Mordnacht getroffen haben.“
„Dann erzählt Ihr Zeuge ganz schönen Bockmist“, fauchte er mich an und versuchte, die Arme in einem Ausdruck der Empörung vor der Brust zu verschränken. In diesem Moment sah er zum ersten Mal seinem Vater Alistair ähnlich.
„Momentan vertraue ich den Worten meines Zeugen weitaus mehr als den Ihren, Stephen“, erklärte ich. „Warum sagen Sie mir nicht einfach mal die Wahrheit, anstatt sich hier die ganze Zeit wie ein kleiner verlogener Mistkerl zu benehmen. Das wäre für uns beide eine willkommene Abwechslung.“
Stephen trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Sein Verhalten war eigenartig. In einem Moment war er so aufgedreht, dass er nicht still sitzen konnte, und im nächsten starrte er mit leerem Blick in die Ferne. Erklärungsmöglichkeiten gab es einige: zu wenig Schlaf, zu viel Stress oder ein neuer Knastkumpel, der ihn mit Kokain versorgte.
„Ich wollte nicht, dass Marina etwas mitbekommt. Es wurde langsam ziemlich ernst mit ihr. Lilia und ich sind trotzdem hin und wieder zusammen gewesen. Marina ging zwar auf den Strich, aber sie war sehr traditionell. Wollte Kinder und meinen Vater kennenlernen. Dieser ganze Brautscheiß eben.“
„Und Lilia hatte weniger traditionelle Ansichten?“
„Auf keinen Fall, Mann“, prustete Stephen. „Sie war wie eine Wildkatze. Sagte, mein alter Herr soll sich ins Knie ficken, wenns ihm nicht passt, wie ich lebe.“ Plötzlich hörte er mit dem Trommeln auf und starrte
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