Nocturne City 02 - Blutfehde
ans andere Ende des Raums blickte, sah ich ihn – den Schädel des Mathias. Von dicken Glasscheiben geschützt, lagerte er auf einer Gipssäule und starrte mich aus seinen toten Augenhöhlen an.
Mit zögernden Schritten ging ich auf ihn zu und konnte kaum glauben, dass ich einen derart alten Gegenstand vor mir hatte. Kurzzeitig spürte ich fast so etwas wie Ehrfurcht in mir aufkommen – es war so, als würde ich vor dem Abbild einer mächtigen Gottheit der Antike stehen.
Als ich näher trat, erkannte ich, dass sich der Schädel in einem Glaskasten befand, der als Verlängerung des darunterliegenden Safes in den Raum ragte. Diese clevere Konstruktion ermöglichte es Seamus, die Reliquie zur Schau zu stellen und sie doch sicher verwahren zu können.
Ich blieb einige Schritte vor dem Glaskasten stehen, um die Inschriften zu betrachten. Als ich die winzig kleinen runenhaften Zeichen auf der Oberfläche des Schädels fixierte, schienen sie sich zu bewegen. Flirrend und flatternd begannen sie vor meinen Augen zu verschwimmen. Ich kannte dieses grässliche Gefühl bereits von anderen Gegenständen und Wesen, denen die Dämonenmagie innewohnte, aber dieses Mal konzentrierte das wilde Flackern so viel Macht in sich, dass es beinahe lebendig zu sein schien. Es umgab den Schädel – der mit seinen braunen Zähnen, den pockennarbigen Wangenknochen und den schwarzen Augenhöhlen schon fürchterlich genug aussah – fast vollständig und strahlte seine unheimliche Energie in alle Richtungen aus.
Neben dem Glaskasten stand ein kleines Tischchen, auf dem allerlei gelbe Notizblöcke und beschriebene Zettel lagen. Unter den Zetteln entdeckte ich ein edles, in Leinen gebundenes Journal, das in dem geschmacklos eingerichteten Raum reichlich fehl am Platze wirkte.
Ich versuchte, die vom Schädel ausstrahlende Magie zu ignorieren, und warf einen Blick auf die Notizblöcke. Sie waren über und über mit fremdartigen Schriftzeichen vollgekritzelt, und unter vielen Zeilen stand bereits eine Übersetzung. In dem Journal setzten sich die kryptischen Zeichen endlos fort, allerdings wechselte hier alle paar Seiten die Handschrift. Die letzten zehn Seiten waren in einer besonders krakeligen Schrift geschrieben und mit Jahreszahl und Namen versehen – Victor Blackburn, 1946.
Ich musste an Seamus’ Worte denken: „Ein Junkie würde alles tun, um an Drogen und Bargeld zu kommen. Sicherlich gehören kompromittierende Fotos und Erpressung auch dazu, aber wenn er geschnappt wird, geht er auf jeden Deal ein.“
Allem Anschein nach hatte Vincent die wenigen übersetzten Zeilen, die seine Familie von den Inschriften des Schädels erhalten hatte, an Seamus verkauft. Vielleicht, um sein Leben zu retten, vielleicht aber auch für Drogen – eigentlich spielte es keine Rolle mehr.
Langsam fügte sich das Puzzle zusammen: Für die Übersetzung der verbleibenden Inschriften hatte Seamus die Hilfe eines Bluthexers benötigt. Anscheinend hatte Vincent nach anfänglicher Kooperation einen Schlussstrich ziehen wollen und damit sein Todesurteil besiegelt. Somit war Seamus gezwungen gewesen, Valerie entführen zu lassen, um von ihr die fehlenden Übersetzungen zu erpressen.
Als ich mich umsah, entdeckte ich vor der Wand eine in den Fußboden eingelassene Klappe, deren Aufschrift vermuten ließ, dass dort Büroabfälle entsorgt wurden. Ich griff mir das Journal und die Blöcke mit Valeries Notizen und warf sie in die Müllrutsche. Ich konnte ohnehin, nichts damit anfangen, und eigentlich war es mir auch lieber, wenn die Inschriften auf dem Schädel nicht so schnell entschlüsselt wurden. Sicherlich würde Sunny schwer enttäuscht sein, dass ich etwas von derart großer magischer Bedeutung einfach so in den Müll warf, aber ein kleiner Streit mit meiner Cousine war mir allemal lieber, als dass Seamus O’Halloran oder Victor Blackburn die Übersetzungen für ihre Zwecke missbrauchten.
Ich schaute wieder auf den Schädel. Seine leeren Augenhöhlen starrten noch immer ins Nichts. Erst jetzt fiel mir auf, wie klein er eigentlich war. Er schien nur wenig größer als der Kopf eines Kindes zu sein. Wahre Macht hatte anscheinend wirklich nichts mit der Größe zu tun.
Der Glaskasten bestand aus mehrere Zentimeter dickem Plexiglas und war wahrscheinlich noch nicht mal mit einem Schneidlaser zu bezwingen. Als ich die nähere Umgebung des
Kastens untersuchte, entdeckte ich auf der rechten Seite einen in die Wand eingelassenen Schalter. Da ich wusste, dass
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