Nocturne City 03 - Todeshunger
überschreiten, wenn ich dieses Abenteuer unversehrt und einigermaßen würdevoll überleben sollte.
Der Fluss schlängelte sich immer schneller durch enge Kurven. Aus der Ferne hörte ich ein Brausen, das mich an das kontinuierliche Dröhnen einer vielbefahrenen Straße denken ließ. »Den Göttern und der strahlenden Herrscherin des Mondes sei Dank!«, brummte ich und beugte mich vor, um kurz Luft zu schnappen, denn meine Oberschenkel und Waden brannten wie Feuer. Mit einem Blick in den finsteren Himmel wurde mir klar, dass ich das Zeitgefühl verloren hatte. Die silberne Blässe, die sich über den Wipfeln breitmachte, verhieß nichts Gutes.
Splitternackt, wie ich war, würde das Trampen an einem viel befahrenen Highway sicher kein Zuckerschlecken werden, aber im Moment zog ich es allemal vor, die anzüglichen Blicke eines Lkw-Fahrers erdulden zu müssen, als mich mitten im Niemandsland in eine rasende Wölfin zu verwandeln. Ich vermutete, nahe bei den Hügeln ausgesetzt worden zu sein. Es würde knapp werden, Nocturne City in Menschengestalt zu erreichen.
Das vielversprechende Dröhnen wurde lauter. Unerwartet verschwanden Wald, Fluss und Felsen vor meinen Augen in einem dunklen Loch. Vorsichtig ging ich näher heran und stöhnte verzweifelt auf. Ein Wasserfall stürzte vor mir einige Meter in die Tiefe und erzeugte so das wabernde Rauschen, das ich aus der Ferne irrtümlich für Verkehrslärm gehalten hatte. Diesmal hatten mich meine geschärften Sinne gehörig in die Irre geführt.
Ich kniete mich an den Rand des Wasserfalls und fühlte, wie mir ein kaltes Prickeln den Rücken hinunterlief – das erste untrügliche Anzeichen für eine drohende Panik. Wütend knurrte ich in die dunkle Nacht, um mir zu beweisen, dass ich alles unter Kontrolle hatte. Ich wusste, Panik war der Anfang vom Ende, also versuchte ich, mich so gut es ging zusammenzunehmen. Ich hatte keine Lust, in einer dieser Dokumentationen über Mädchen zu enden, die spurlos im Wald verschwunden waren. Ich wollte keines dieser kleinen Rotkäppchen sein, deren Knochen Wanderer erst Jahrzehnte später entdeckten.
Jäh riss die Wolkendecke auf und gab den Weg für einen Strahl hellen Mondlichts frei, der auf eine kleine Felsspalte am Ende des Wasserfalls fiel, und ich fauchte und verkroch mich unter den Ästen eines Baums. Hätte er mich erwischt, wäre es um mich geschehen gewesen.
Plötzlich sah ich aus dem Augenwinkel etwas durch das silberne Licht huschen: Auf der anderen Seite des Wasserfalls lief eine unförmige Silhouette von einem Baumstamm zum nächsten. Ehe sie wieder verschwand, hielt sie einen Moment inne.
Toll. Es sah ganz so aus, als hätte ich schon nach ein paar Stunden im Wald mit den ersten Halluzinationen zu kämpfen.
Ich begann zu frösteln, als die Temperatur plötzlich fiel – weniger wegen der Kälte, sondern eher, weil ich ahnte, dass ein sich so schnell verdichtender Nebel, begleitet von einem Kälteeinbruch, nicht natürlichen Ursprungs sein konnte. Plötzlich verstummte die Geräuschkulisse des Waldes, sodass ich in der Stille mein Herz schlagen und das Blut durch meine Adern rauschen hörte.
Ich drückte mich gegen den Baumstamm, weil ich ahnte, dass es in diesem Augenblick sinnvoller war, mich zu verstecken, als mein Heil in der Flucht zu suchen. In dem dichten, feuchten Nebel, der zwischen den Bäumen hing, würde ich sowieso nichts sehen können. Ich konnte ruhig und gleichmütig sein. Ich konnte rational sein.
Hinter mir knackte weit entfernt ein Ast. Dann, nach einer langen Pause, knackte es wieder, aber diesmal war das Geräusch ganz in der Nähe. Um mich herum waberte der dichte Nebel, und auf meiner Haut sammelten sich Wassertropfen. Plötzlich wurde es so kalt, dass ich meinen Atem sehen konnte.
Ich lauschte weiter angespannt in den Wald und erstarrte, als meine Ohren in unmittelbarer Nähe das Atemgeräusch eines zweiten Lebewesens wahrnahmen. Mir lief ein eisiger Schauer über den Rücken, und Gänsehaut legte sich über meinen Körper.
»Du kannst mich mal!«, grollte ich, um mir Mut zu machen, denn ich hatte nicht vor, diesem Etwas auch nur ansatzweise zu zeigen, wie hilflos und eingeschüchtert ich mich in diesem Moment fühlte.
Als Antwort ertönte ein tiefes, kehliges Lachen, das unmöglich menschlichen Ursprungs sein konnte. Nach und nach wurde es tiefer und verwandelte sich schließlich in ein gräuliches, markerschütterndes Knurren.
Zur Hölle mit der Besonnenheit. Von Furcht getrieben
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