Nocturne City 03 - Todeshunger
öffnete den Reißverschluss.
Ich starrte in das tote Gesicht Bertrand Lautrecs und zuckte zusammen. »Mein Gott, Kronen, schließen Sie nie die Augen der Toten?«
Er zuckte die Achseln. »Mich stört das nicht.«
Bis auf das große, dunkle Einschussloch mit dem verkohlten Rand in der Stirn war Bertrands Gesicht unversehrt.
»Bei der Untersuchung habe ich dasselbe gedacht, was Sie jetzt höchstwahrscheinlich denken«, sagte Kronen. »Kopfschuss aus einer Pistole, nicht?«
»Kurze Distanz«, nickte ich. »Armer Hund.«
»Fällt Ihnen etwas auf, Officer?«, fragte Kronen. Ich sah mir die Wunde näher an, konnte aber nichts entdecken. Als ich die Achseln zuckte, steckte Kronen ohne Vorwarnung seinen Zeigefinger in das Loch, das die Kugel hinterlassen hatte. Ich schreckte zurück. »Das ist ja widerlich!«
»Beruhigen Sie sich, Officer Wilder«, entgegnete Kronen und zog den Finger wieder heraus. »Fällt Ihnen jetzt vielleicht etwas auf?«
Die Haut an der Eintrittswunde sah noch genauso aus wie vor Kronens Fingertrick: Bis auf den verkohlten Rand war sie bleich und ohne Blutspuren – so makellos, als hätte jemand lediglich eine Zigarette auf Lautrecs Stirn ausgedrückt. Auch am Finger meines Lieblingsgerichtsmediziners war kein Blut zu sehen.
»Kein Blut«, stutzte ich. »Nicht mal geronnenes.« Kronen schmunzelte vielsagend, streifte die Handschuhe ab und begann zu erklären: »Genau, kein Blut in oder an der Wunde! Eigentlich logisch, wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass Mr Lautrec bereits fast zwei Drittel seines Blutvolumens verloren hatte, ehe er starb. Der Mann ist verblutet. Das Loch in der Stirn hat man ihm post mortem verpasst.«
»Äh, wir haben möglicherweise Grund zu der Annahme, dass der Mörder, ahm, Blut trinkt«, gab ich zu und dachte daran, was Sunny mir über die Wendigos berichtet hatte. »Da ist dem Anschein nach jemand nach der Devise ›doppelt hält besser‹ vorgegangen«, überlegte ich. »Zwei Drittel ist viel. Danach steht selbst ein Werwolf nicht mehr.«
»Eventuell sollte mit dem Kopfschuss auch einfach nur die tatsächliche Todesursache vertuscht werden«, gab Bart zu Bedenken.
»Eventuell … aber das könnte so gut wie jeder gewesen sein«, erwiderte ich und rieb an meiner Nase, um den Gestank des toten Fleischs loszuwerden.
»Jedenfalls habe ich die Leichen danach eingehender untersucht«, meinte Bart und zog den Reißverschluss des nächsten Leichensacks auf, in dem Jin Takehiko lag. Zum Glück waren seine Augen geschlossen. Bis auf den wulstigen Y-Schnitt war seine Brust glatt und faltenlos. Hier und da zeichneten sich die Muskelstränge unter der Haut ab. Die groben Nähte teilten Jins großflächige Tätowierung. Die kleine magische Tätowierung über meiner Lende war eine Kinderzeichnung im Vergleich zu den detailreich gezeichneten Wölfen und den meisterhaft gestalteten Drachen, die sich auf der Haut des Ermordeten tummelten.
Kronen kramte eine Stiftlampe hervor und leuchte auf Jins linke Brusthälfte. »Alle vier haben charakteristische Abdrücke im Thoraxbereich«, sagte er. »Die Ursache konnte ich noch nicht bestimmen.«
Ich beugte mich über den Toten und entdeckte vier eirunde Quetschungen auf Jins Brustkorb, die zwischen den farbenprächtigen Tätowierungen nur schwer auszumachen waren. Wären seine Tätowierungen nicht nach dem Tod etwas verblasst, hätte ich sie höchstwahrscheinlich nicht gesehen.
»Kronen«, sagte ich, streckte die Hand aus und legte sie auf die eirunden Abdrücke. Auch wenn meine Finger nicht lang genug waren, um an die Druckstellen zu reichen, konnte man doch das Muster erkennen: fünf Finger, die sich auf Herzhöhe in den Brustkorb gegraben hatten.
»Erstaunlich«, brummte Kronen. »Es macht fast den Anschein, als hätte man ihnen den Lebensmotor aus dem Leib gerissen …« Er schaltete seine Lampe aus. »Allen vier Opfern fehlt nämlich das Herz, und deshalb habe ich die ganze Zeit über schon geahnt, dass es mit diesem Fall mehr auf sich hat, als Captain Morgan zugeben will.«
»Ich glaube, Sie vermuten richtig, Bart«, murmelte ich.
Den Opfern fehlte das Herz. Sunny hatte vom Blutdurst der Wendigos erzählt, aber mit keiner Silbe erwähnt, dass sie ihrer Beute auch die Herzen aus dem Leib rissen. »Der Brustkorb sieht aber intakt aus«, gab ich zu bedenken.
»Das bereitet mir auch Kopfzerbrechen …« gab Kronen zu und bedeute mir mit einem Nicken, die Hand von den geheimnisvollen Quetschungen auf Jin Takehikos Brust
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