Nördlich des Weltuntergangs
stellend und die Zelle erträglich sei.
Der Mörder hatte keine anderen Klagen als die, dass man ihn ohne rechtswirksames Urteil festhalte. Er erklärte, er falle unter den Strafvollzug des finnischen Staates und somit habe eine private Haftanstalt kein Recht, seine Freiheit einzuschränken. Außerdem habe ein Oberst, der aus Russland stamme, in Finnland keine richterlichen Befugnisse. Das Essen sei ansonsten gut und ausreichend, da gebe es nichts zu bemängeln. Die Bedingungen seien mit Kakola gar nicht zu vergleichen. Dort sei es schmutzig und dunkel gewesen, und es habe so wenige Wärter gegeben, dass manchmal tagelang niemand in die Zelle geschaut habe. Die Häftlinge hatten regelrecht gehungert, und viele seien krank oder ver rückt geworden. Wegen dieser Qualen habe er beschlos sen zu fliehen. Nach diesen Worten brach der Mann in Tränen aus.
Der Oberst schloss die Zelle ab.
»Durch Weinen kommt man hier nicht raus«, konstatierte er und öffnete dann die Tür der Frauenzelle.
In der hintersten Ecke saß eine etwa dreißigjährige Frau mit wirren Haaren, die ihr Gesicht zur Wand dreh te und kein Wort sagte. Sie hatte zehn Tage Haft ohne Bewährung bekommen, wozu sie das Dorfgericht von Hiidenvaara nach der Maifeier verurteilt hatte. Grund für das Urteil waren ihr loses Mundwerk und ihr fortge setzter unsittlicher Lebenswandel gewesen. Die Anzeige war durch die Frauen vom Hiidenvaara erfolgt, die den ständigen Klatsch und vor allem die Tatsache satt hat-ten, dass diese Frau regelmäßig die Männer des Dorfes zu sich lockte, allem Anschein nach mit großem Erfolg. Die Beschuldigte hatte zwischen zwei Urteilen wählen dürfen: entweder auf dem Kirchenhügel von Ukonjärvi an drei Sonntagen für jeweils eine Stunde am Pranger zu stehen oder für zehn Tage ins Gefängnis zu gehen. Die Frau hatte die letztere Alternative gewählt, inzwi schen bereits sieben Tage von ihrer Strafe abgebüßt und würde in der folgenden Woche entlassen.
Der Oberst erzählte, dass für gewöhnlich beide Zellen leer waren. Im letzten Frühjahr, als die neue Schnaps fabrik eröffnet worden war, war zwar die Männerzelle eine Zeit lang durchgehend besetzt gewesen, ansonsten war es jedoch sehr still, und manchmal wurde ihm die Zeit lang.
»Zum Glück habe ich das Saxofon, darauf spiele ich oft zum Zeitvertreib. Manche Gefangenen mögen die Musik und lauschen still.«
Die Schnapsbrennerei der Stiftung war einen Kilome ter von Rajakylä entfernt am Ufer des von Sümpfen umgebenen Sees Rätsinlampi errichtet worden. Es war eine abgelegene und unbewohnte Gegend, sodass sie sich gut als Standort für das Objekt eignete. Destillieren von Alkohol war in Finnland auch im dritten Jahrtau send noch verboten – warum eigentlich? –, und so konn te selbst die Stiftung es nicht wagen, eine solche Anlage an einem öffentlich zugänglichen Ort zu betreiben. Jedenfalls lag die Schnapsherstellung in den Händen der verwitweten Bäuerin Tyyne Reinikainen aus Valtimo. Als Gehilfe stand ihr erwachsener Sohn Jalmari ihr zur Seite.
Eemeli und Taina trafen am Nachmittag ein, um die Brennerei zu inspizieren. Ein kleines Gebäude aus grauen Balken stand da am Ufer des schwarzen Sumpf sees. Am Giebel befand sich ein Anbau aus Brettern, eine geräumige Küche, in der zwei Kessel standen: ein größerer für sechzig und ein kleinerer für zwanzig Liter.
Als Rohstoff wurde überschüssiges Getreide verwen det, hauptsächlich der Roggen, der auf den Schwenda ckern wuchs. In dem größeren Kessel wurde Wodka destilliert, in dem kleineren mit einer Würzbeimischung Kräuterschnaps hergestellt. Letzterer war mittlerweile ein regelrechter Exportschlager der Stiftung, sogar in Turku und Helsinki gab es Abnehmer. Tausende von Litern wurden jährlich produziert.
Die Inspektion der Schnapsfabrik war eine vergnügli che Angelegenheit. Die Toropainens kosteten den ganzen Abend lang die Produkte und verglichen gründlich die Qualität. Sie besprachen außerdem mit ihrer Gastgebe rin die Erweiterung der Fabrik um einen dritten Kessel. Darin sollte Pomeranzenschnaps oder vielleicht Küm melwodka hergestellt werden. Es war einen Versuch wert.
Der Sohn der Brennmeisterin heizte die Sauna, wäh rend Taina Toropainen im See badete. Die Unterhaltung an diesem lauen Sommerabend drehte sich auch um die Angelegenheiten des Nachbardorfes Rajakylä. Tyyne Reinikainen erkundigte sich, ob der Mörder und die Hure noch im Gefängnis saßen. Sie
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