Noir
Tränen über ihre Wangen kullerten.
Er wollte sie trösten. Aber er konnte sie nicht belügen, und die Wahrheit war zu viel für sie. Langsam legte er seine Hände auf Katjuschas Schultern. Er hörte Noir hinter sich den Atem anhalten. Auch Katjuscha hörte und sah sie, aber ihr Verstand blendete Noir einfach aus. Er durfte sie nicht auf ihre Blindheit hinweisen, sonst hielt sie ihn für verrückt. Er musste sie führen, wie man eine Blinde führte.
Mit aller Macht konzentrierte er sich auf Katjuschas Inneres. Er sah in ihre geröteten Augen, versuchte sich nicht von ihrer Angst, von ihrer Traurigkeit aufhalten zu lassen und tastete nach dem Wortlosen in ihr. Es kam ihm so falsch vor, in ihr Unbewusstes einzudringen, aber es ging nicht anders.
«Katjuscha», sagte er mit ruhiger, leiser Stimme, «du machst dir keine Sorgen um deinen Bruder. Ihm geht es gut. Wenn er weg ist, wirst du ihn nicht vermissen.»
Er sah ihre Pupillen mit ihrem Herzschlag pulsieren.
«Katjuscha», wiederholte er. «Du wirst nicht traurig sein. Wenn wir uns verlieren, machst du dir keine Sorgen um mich.»
Er spürte, wie auch ihm Tränen in die Augen stiegen. Reiß dich zusammen, dachte er. Katjuscha blinzelte träge.
«Du wirst nicht traurig sein.»
«Ich werde nicht traurig sein», wiederholte sie, doch die Worte klangen vollkommen bedeutungslos. Hoffentlich hatte es funktioniert. Sie saß schlaff wie eine Stoffpuppe da und sah ihn an.
Er drückte ihre Schultern und drehte sich zu Noir um. Immer noch nackt wie ein Schatten, glitt sie durch das Wohnzimmer und verschwand hinter seiner Tür. Er folgte ihr und schloss leise ab.
«Nino», flüsterte sie, als er die Bettdecke um sie schloss und sich mit ihr aufs Bett sinken ließ. «Deine Schwester liebt dich. Mit ganzem Herzen, obwohl sie nur einen Teil von dir kennt.»
Er schwieg, und auch Noir fügte nichts mehr hinzu.
«Ich kann mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen», sagte er irgendwann. Noirs kühle Hände lagen auf seinen Wangen. Auch sie hatte einmal alle Menschen in ihrem Leben verloren. Beim Gedanken daran betrachtete er sie eingehend. «Erinnerst du dich an die, die dich geliebt haben?»
Sie ließ ihn in der Dunkelheit ihrer Augen suchen. Dann schüttelte sie den Kopf.
Er drückte sie fester an sich, und sie blieben liegen, als müssten sie nur ausharren und lange genug warten, bis sie miteinander verschmolzen.
«Deine Schwester ruft den Notarzt.»
Tatsächlich hörte auch Nino mehr über sein Gefühl als seine Ohren, wie Katjuscha das Telefon von der Ladestation hob und mit weichem Finger drei Tasten drückte. Sie war im Bad, saß am Wannenrand und sprach mit gedämpfter Stimme zu einem Fremden.
Ja, mein Bruder. Er hat schon einmal. Ich befürchte, er hat es wieder vor.
«Sie glaubt, ich plane einen Selbstmord.»
«Viele wollen sich umbringen. Die, die es tun, wollen gar nichts.»
Er nickte. Sie war so klug. Sie wusste alles, was in ihm vorging.
Er umarmte sie, dass sie ächzte. Wie weich sie war. Er zählte die Wirbel an ihrem Rücken von oben nach unten, drückte und kniff und küsste sie. Wie echt sie war.
«Noir, du musst gehen. Ich muss mit meiner Schwester reden. Und sie hält mich für verrückt, wenn du dabei bist.»
Sie vergrub das Gesicht in seinem Nacken. «Ich will nicht weg von dir.»
«Was ist eigentlich mit Jean Orin? Weiß er, wo du bist?»
«Er denkt, ich bin bei der Arbeit.» Spürend, dass er eine Erklärung erwartete, biss sie sich auf die Unterlippe. «Wir stehlen. Wir brechen in Häuser ein, in Geschäfte, was auch immer.»
«Du und …»
«… Amor und Schnee. Schnee seltener. Er ist ja fast nicht mehr da.»
Er versuchte sich das vorzustellen: eine Existenz ohne Schlaf, in der man sich an nichts erinnerte und die bedeutungslose Zeit damit verbrachte, Geld zu stehlen. Unsichtbar. Gefühllos.
Er musste ihr helfen. Amoke hatte gesagt, sie würde sich bald wieder melden, und sie wusste sicher einen Ausweg.
Noir sah ihn mit stiller Erwartung an, so als ahnte sie, dass er eine Möglichkeit der Rettung kannte, über die er noch nicht sprechen durfte.
«Ich muss mich um Katjuscha kümmern», sagte er schließlich.
Sie nickte.
Es kostete große Überwindung, sie aus den Armen zu lassen. Sie richteten sich auf, und Nino zog sie an. Erst führte er das eine, dann das andere Bein in ihre Hose, zog ihr die Strümpfe und Schuhe an und steckte ihren Kopf und ihre Arme durch die Löcher des Pullovers. Sie beobachtete dabei seine Hände, als
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