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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waris Dirie
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brauche dich«, flehte ich sie an.
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich will nicht dorthin. Hier ist mein Zuhause, hier kenne ich alles, und hier werde ich sterben.« Sie hatte Recht. Im Grunde konnte ich sie mir in New York nicht vorstellen. Meine Mama würde todunglücklich sein. Sie würde nicht mehr so leben können, wie sie es gewohnt war. Dort würde sie nicht einfach morgens aufstehen und irgendwohin gehen können. Niemand in New York würde Witze über eine furzende Ziege verstehen. Mit wem sollte sie dann Witze austauschen? Sie zwinkerte mir zu. »Ich kann meine Kinder nicht verlassen. Ich muss hier bleiben, falls mein größtes Kind, dein Vater, nicht in der Lage ist, eine neue Frau zu finden.«
    »Mama«, beschwor ich sie, »du bräuchtest zur Abwechslung mal jemanden, der sich um dich kümmert. Bitte, komm mit mir!« Ich wünschte mir verzweifelt, sie für mich zu haben, aber es war ein egoistischer Wunsch. Ich wollte, dass sie meinem Haus in New York, meinem Sohn, meinem Leben Frieden brächte.
    Sie zog mich an sich, küsste mich auf die Stirn und sagte: »Nein. Ich bleibe hier, diesen Platz hat Allah mir zugewiesen.« Meine Mutter ist das unerschütterliche Fundament unserer Familie, der Lebensbaum, dessen Wurzeln tief in die Erde reichen.
    »Oh, Mama!« Weinend klammerte ich mich ein letztes Mal an sie. Ich umarmte Burhaan und Raschid, Ragge, Onkel Achmed, die kleine Asha und Nhur. Raschid lächelte und zeigte auf seine perfekten Zahnreihen. Dann überreichte er mir zehn Zahnbürstenstöcke, die er am Morgen frisch geschnitten hatte. Blinzelnd und lachend steckte ich sie in meine Tasche. Mohammed und ich stiegen ins Auto, und langsam wurden meine Lieben immer kleiner, während wir über die Hügel auf die Borama-Straße nach Bosasso glitten. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu schluchzen. Meine Mama! Ich liebe sie so sehr. Sie besitzt eine Anmut und Würde, die ich nie erreichen werde – eine echte Somali, die sie immer bleiben wird. Mutter akzeptiert den Ort, an den Allah sie versetzt hat, und dankt ihm jeden Tag dafür. Sie wird Gott nie in Frage stellen, weil sie bei ihm sicher aufgehoben ist. Ich dagegen konnte es nicht akzeptieren, ich musste weglaufen und mir meinen Weg allein suchen. Manchmal wünschte ich, ich besäße ihre Ruhe, ihr Gottvertrauen, aber ich wusste immer schon tief im Innern, dass ich für dieses Leben nicht taugte. Wenn ich ehrlich bin, hat es mich nicht einmal überrascht, dass meine Mutter nicht mit nach New York kommen wollte. Ich verstand genau, was sie meinte. Es ist nicht schwer, in Somalia zu bleiben, wenn man in dem kargen Land geboren und aufgewachsen ist und nicht viel anderes kennt. Dadurch besitzt sie etwas, das mehr wert ist als aller Reichtum des Westens. In ihrem Leben herrschen Gelassenheit und Frieden.
Frauen sind Fallstricke des Teufels.
    (Somalisches Sprichwort)

14

Die Rückreise

    Die Rückreise zu dem kleinen Flughafen in Bosasso unterschied sich völlig von der Hinfahrt zum Dorf meiner Mutter. Dieses Mal bestand die ungeteerte Straße aus dickem, rotem Schlamm mit Schlaglöchern voll braunen Wassers. An manchen Stellen ähnelte sie sogar einem Fluss. Wir durften nicht anhalten, weil wir sonst stecken geblieben wären, und wir mussten uns die ganze Zeit über festhalten, damit wir uns nicht irgendwo anstießen. Wenn man auf so einer Strecke einsinkt, kann man nur warten, bis ein anderes Auto vorbeikommt, das einen aus dem Schlamm zieht. Aber die Landschaft war üppig grün und wunderschön. Am Himmel hingen dicke, weiße Wolken, und die Temperatur empfand ich als angenehm. Ich saß auf dem Rücksitz und weinte, weil es mir so schwer fiel, meine Eltern zurücklassen zu müssen. Ich betete zu Gott, dass mein Vater wieder gesund würde und wieder sehen könnte. Mohammed und der Fahrer, den wir engagiert hatten, Musa, unterhielten sich über die enormen Temperaturen, als wir angekommen waren. Musa erzählte, dass Leute in der glühenden Sonne gestorben seien.
    Wir fuhren den ganzen Tag ohne Unterbrechung, um vor Einbruch der Dunkelheit Bosasso zu erreichen. Musa war Darod und ein früherer Bekannter von Mohammed. Er hatte Bosasso noch nie einen Besuch abgestattet, und ich fragte mich, woher er wohl ohne Straßenkarte den Weg kannte. An den Kreuzungen gab es auch keine Hinweisschilder, und sie sahen alle gleich aus. Aber Musa fuhr, ohne zu zögern immer in Richtung des Sonnenuntergangs. Dikdiks sprangen durchs Gebüsch – sie sind winzig, mit spindeldürren

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