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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waris Dirie
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ich ihnen. Es war wie ein somalischer Secondhandladen.
    Manchmal rennt die Sonne geradezu über den Himmel, und an diesem Morgen war das der Fall. Das ist im Übrigen ein weiteres Problem mit Uhren – Zeit stimmt nicht immer überein. Mein Vater lag in Burhaans Haus, und ich ging hin, um mich von ihm zu verabschieden. Ich hatte das Gefühl, mein Körper würde zehn Tonnen wiegen. Es gibt ein somalisches Wort dafür, wenn man mit jemandem ein letztes Mal vor einer Reise spricht, und als Aba es aussprach, begann ich zu weinen. Er war so schwach und hilflos. Aber er sagte: »Warum weinst du, Kind?«
    »Ich wünschte, du könntest mein Gesicht sehen, bevor ich fahre.«
    »Liebes, du weißt doch, dass ich dich nicht sehen kann.«
    »Ja, aber ich will, dass du mich siehst – mein Gesicht, meine Augen«, schniefte ich. »Es ist über zwanzig Jahre her, seit du mich das letzte Mal gesehen hast. Damals war ich ein kleines Mädchen, jetzt bin ich eine erwachsene Frau.« Er griff nach meiner Hand, und ich führte sie an mein Gesicht. Scheu und zärtlich betastete er meine Haut, fuhr mit den Fingern an meiner Nase entlang. Die Tränen rannen mir über die Wangen. Ich wollte meinen Vater wieder so streng und stark sehen wie früher. Es war die Sehnsucht nach dem mächtigen Herrn, vor dem ich als Kind mehr Angst gehabt hatte als vor Löwen.
    Anscheinend konnte er meine Gedanken lesen, denn er sagte: »Waris, wir werden alle älter und verändern uns. Nichts kann je das Gleiche bleiben.«
    »Vermutlich gibt es ja einen Grund für alles, aber hierfür kennt nur Allah ihn«, schluchzte ich. Draußen warteten schon alle auf mich – Mohammed rief nach mir und hupte ungeduldig. »Aba, ich muss jetzt gehen!«
    »Ich habe etwas für meinen Enkelsohn«, sagte mein Vater, »ein
xudden-xir
.« Er reichte mir ein langes Haar von einer Kamelstute. Es ist ein Geschenk für ein neu geborenes Kind, und als ich es erblickte, musste ich noch mehr weinen. »Tu mir einen Gefallen«, flüsterte er, »zeig ihnen deine Tränen nicht. Du bist eine erwachsene Frau, und ich bin noch nicht tot. Wenn ich tot bin, kannst du immer noch weinen. Jetzt geh!« Das war seine Art, mir zu sagen, dass er mich liebt. Er wollte mich abhärten, weil man seiner Ansicht nach nur so mit dem Leben fertig wird.
    »Weißt du noch, Aba«, beeilte ich mich loszuwerden, »wie wir alle zusammengesessen und uns unterhalten haben und jemand sagte, ‘Waris, du siehst aus wie dein Vater’. Jemand anders erklärte: ‘Nein, du siehst aus wie deine Mutter, du bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten’? Aba, ich weiß genau, wer ich bin. Den Eigensinn und die Stärke habe ich von dir – die Klugheit und das Aussehen von meiner Mutter. An dem Tag haben alle darüber gelacht – aber du weißt, dass es stimmt.«
    Er ermahnte mich: »Denk immer daran, Waris. Du hast meine Stärke. Bewahre sie dir!«
    Mittlerweile wusste ich, was meine Familie am Nötigsten brauchte, aber mir war klar, dass sie mich nie darum bitten würden. »Aba, sobald ich zu Hause bei einer Bank vorbeikomme, schicke ich Geld für Nhurs Brautpreis«, versprach ich ihm. Er zog meine Hand an sein Herz, dann drehte er sich zur Wand. Ich weiß, dass er weinte, als ich ging – aber auch das würde er mir niemals zeigen.
    Als ich mit Tränen aus dem Haus trat, sagte meine Mutter: »He, warte mal! Warum weinst du eigentlich nie um mich? Warum nur wegen ihm?«
    »Mama, bitte, komm mit mir«, flehte ich sie an und ergriff ihre Hände.
    »Waris, das geht doch nicht«, wehrte sie ab. »Ich muss deinen Vater und Mohammed Inyer versorgen.«
    »Mama, dann komme ich wieder und hole dich später zu mir nach New York.«
    »Waris, für diese Stadt bin ich zu alt«, sagte sie. »Ich habe schon Abu Dhabi gehasst, als ich dort bei deiner Schwester war. Es gab Haufen von Gold und Juwelen und einen großen Baum ganz aus Gold – aber in den Straßen verhungerten die Kinder, weil sich niemand um sie kümmerte. Ich kann dort nicht leben.«
    »Mama, New York ist nicht so.«
    »Mit wem soll ich denn da reden? Ich kann doch nur Somali sprechen. Wen soll ich dort besuchen? Alle meine Freunde sind hier.« Sie nahm mich bei der Hand und ging mit mir auf das Auto zu. »Liebes«, erklärte sie, mir hat doch die Stadt Abu Dhabi schon nicht gefallen, und dort ist es fast so wie hier. Es ist heiß, die Leute beten fünfmal am Tag – aber es bedeutet ihnen nichts. Wie können sie einfach so an hungernden Kindern vorbeilaufen?«
    »Mama, bitte, ich

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