Nonnen
Einbänden zurück. Er
warf die Bücher auf den Boden, wühlte wie ein Maulwurf
tiefer und tiefer, murmelte unablässig: »Nein, nein,
nein, nein…« Doch dann hatte er es gefunden.
Mit zitternden Fingern schlug er die Kladde auf. Seine
Kenntnisse der Sütterlin-Schrift waren sehr begrenzt. Er
begann zu buchstabieren. Aber da gab es keinen Zweifel: Tagebuch / von / Schwester Hildemarga. Er schlug den
Deckel so heftig zu, daß es einen satten, dumpfen Knall
gab. Staub wirbelte auf. »Was ist Erfindung?« Die
Knie wurden ihm weich, und er setzte sich auf den Karton, das
geschlossene Buch im Schoß. Er würde es nie
aufschlagen, nie lesen. Sein Leben begann zu rutschen, in einen
Abgrund, den er schon lange geahnt hatte. Er wußte,
daß er dieses Buch kaufen mußte; er zerrte seine
Geldbörse hervor und zählte nach. Es reichte nicht. Es
reichte nur, wenn es hier eine Abweichung von der Realität
in seiner Geschichte gab.
»Ich will nicht!« rief er.
Herr Grassteiner kam herangelaufen und sah Benno auf der Kiste
sitzen. »Ist Ihnen nicht gut?«
Benno schaute ihn an und wußte einen Moment lang nicht,
wer da vor ihm stand. Dann lachte er. Als er sah, daß sein
Gegenüber zwischen Mitlachen und Widerwillen schwankte,
verstummte er. Er zeigte das Buch vor und fragte: »Wie
teuer? Zu teuer? Sicherlich. Es kostet mindestens mein Leben,
wissen Sie?«
Der Antiquar rang noch immer um Geduld und Fassung. »Nun
ja, so teuer wird es schon nicht werden.«
»So, meinen Sie?« sagte Benno leise.
Herr Grassteiner blätterte unschlüssig in dem Buch.
Dann sagte er: »Ich lasse es Ihnen für fünf
Mark.«
Benno zahlte hastig, ohne ein einziges Wort zu verlieren,
griff nach der Kladde und rannte aus dem Laden. In der Bahn wagte
er nicht, einen Blick hineinzuwerfen. Auch zu Hause legte er sie
ungeöffnet auf seinen Schreibtisch. Aber da lag sie zu nahe
bei ihm. Er zwängte sie zwischen zwei ausladende
Buchrücken auf seinem Bücherregal, so daß sie
kaum zu sehen war. Er mußte das Tagebuch wegschreiben. Es
konnte und durfte nicht existieren. Er mußte seine
Geschichte ändern. Wenn er seine Geschichte änderte,
änderte er auch die Realität.
»Glaubst du das wirklich? Du steckst schon viel zu tief
drin.«
»Das ist eine Lüge. Ich verfasse nur eine
Erzählung, sonst nichts. Und alles andere ist Zufall. Und
ich sollte endlich weiterschreiben.«
»Kannst du das jetzt noch? Weißt du denn nicht,
daß du Dinge erfahren wirst, die du nicht erfahren
willst?«
»Es gibt nichts, vor dem ich mich fürchten
müßte.«
»Es ist schön, daß du das glaubst.«
»Halt den Mund!«
Und er nahm die Blätter vor und schrieb weiter.
»IST ES EIN Wunder, daß ich in jener Nacht
schlecht schlief? Ich sah die Nonnen vor mir, wie sie ihre
Schwarze Messe lasen und Ausblicke in Realitäten erhielten,
die keines Menschen Auge je zuvor gesehen hatte. Ich sah auch den
Alten vor mir, von dem sie ihre obskure Kunst gelernt hatten, und
was ich sah, war abscheulich. Und dann war ich ein Zuschauer
ihrer frevlerischen Zeremonien, ein versteckter Zuschauer, doch
sie entdeckten mich. Sie kamen auf mich zu, und ihre Gesichter
waren nicht mehr menschenähnlich. Eine hielt ein langes
blutiges Messer in der Hand. Ich war froh, als ich
erwachte.«
Er vermochte nicht, mit dem Schreiben fortzufahren.
Stundenlang saß er vor dem Papier und wußte nicht,
worüber er nachsann. Dann ging er zu Bett. Er träumte
von den Nonnen. Eine sagte zu ihm: »Du wirst es
lesen.« Und er erwachte schweißüberströmt.
Da ging er zu seinen Büchern und suchte nach der Kladde. Er
zog sie mit zittrigen Händen hervor und schlug sie auf.
Blatt für Blatt blätterte er sie durch. Es war kein
Tagebuch. Es war eine Anklageschrift.
Und Benno erinnerte sich, wie er während der Messe
Papierkügelchen aus mitgebrachten Blättern drehte und
sie mit einem winzigen Blasrohr auf die Rücken und Nacken
der Nonnen abschoß. Und ihre boshaften Blicke! Nein, das
war es nicht gewesen. Er war immer ein Musterknabe gewesen. Alle
Leute waren entzückt von ihm und beglückwünschten
seine Eltern zu solch einem Prachtjungen. Und sie waren immer
ganz stolz gewesen.
Draußen.
Nach außen hin.
Wie oft hatte seine Mutter ihn geschlagen. Und eingesperrt.
Sie wurde nicht mit ihm fertig. Er biß sie. Und dann war er
wieder lieb, als könnte er kein Wässerchen
trüben.
Nein, das war ein anderes Leben. Warum glaubte er, sich
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