Nonnenfürzle: Kriminalroman (German Edition)
Gegenseite
wieder völlig herausbekommen.
Du betrachtest
den Toten. Er schläft, bleich, fast weiß. Dann visierst du noch einmal die Farbausdrucke
der Plastinate an, die ungeordnet an der leicht gewölbten Mauerwand hängen. Der
Präparator Gunther von Hagens ist dein großes Vorbild, obwohl sein Wirken schamlos
und gottlos ist. Die Technik, die Ergebnisse – phänomenal. Aber nur für den ersten
Arbeitsschritt, das Verfahren des Plastinierens ist von Hagens das Vorbild. Obwohl
du schon gute, eigentlich sehr gute Vorkenntnisse besitzt, die dir nun von großem
Vorteil sind.
Doch die
zweite Stufe des Verfahrens, der Prozess des Wieder-Lebendig-Machens durch die Strukturierung
der Hülle, das ist dein Eigenes. Diese Stufe geht eigentlich wieder einen Schritt
zurück, ist aber trotzdem ein Fortschritt, indem das Plastinat wieder eine Haut
bekommt, eine Haut, die einzigartig sein wird. Eine Haut selbst geschaffen. Eine
Haut, die die Muskelstruktur auf unnachahmliche Weise, auch durch die spezielle
Einfärbung betonen wird.
Staunend
begutachtest du die abgebildeten Werke des Meisters der Plastination. Vor allem
das Bild, auf dem ein Gehäuteter seine eigene äußere Hülle mit ausgestrecktem rechtem
Arm in der Hand nach oben hält, hat es dir angetan. Es ist von doppelter Bedeutung,
die abgezogene Haut wurde abgelegt und zu Markte getragen.
Du gehst
zu einem der alten Präparate und betrachtest es. Du streichelst sanft darüber. Wie
weich es immer noch ist, nach all den Jahren. Das Präparat hängt an einem Holzkreuz.
Doch du
wirst es schaffen, dem ausgeweideten Körper, der kalt auf dem Schüttstein liegt,
eine neue, perfekte Hülle zu verpassen. Eine Außenhaut, die er nun tragen muss,
ob er will oder nicht.
Du schüttelst
sanft den Kopf, diesem kalten Körper wirst du nun die neue Bedeutung geben. Stellvertretend
für den ersten, der für seinen Stolz, Übermut und seine Überheblichkeit sein Leben
lassen musste, wird nun dieses Zufallsopfer auf dem Schüttstein in seiner letztendlichen
Bestimmung Demut und Reue repräsentieren. Er wird sich als Stellvertreter vor deiner
Kunst niederwerfen, am Boden knien, gekleidet in deine eigene Kunst. Was die Kritiker
zu Lebzeiten nicht begriffen, wird er für alle im Tod demütig niedergeworfen erkennen.
Du begutachtest
ausführlich ein weiteres Bild, das den Präparator im karierten Hemd mit Lederweste
und obligatem, schwarzen Hut zeigt, wie er eines seiner bedauernswerten, entwürdigten
Präparate freundschaftlich im Arm hält. Dem für die Ewigkeit konservierten Menschen
quillt an Stelle der Ohren irgendetwas aus dem Kopf. Vielleicht Hirn.
Von Hagens,
dessen Lebensgeschichte du auswendig kennst, ist ein perfekter Techniker, aber er
hat seinen Toten die Seele gestohlen, er hat den Tod erniedrigt. Du gehst ganz nahe
an das Bild heran, riechst den modrigen Geruch des Steines und stierst in die Augen
des grinsenden Totenkonservierers. Du kennst ihn und seine Geschichte ganz genau.
Du kannst sie auswendig herunterbeten:
Der Leichenschänder
von Hagens wurde im Reichsgau als Gunther Gerhard Liebchen geboren. Da ihm der Namen
Liebchen verständlicherweise nicht zusagte, übernahm er den von seiner ersten Ehefrau
Cornelia. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Thüringen. Der junge Gunther
beschloss, Medizin zu studieren. Dann wurde er politisch, im Jahre 1968 ging er
im Prager Frühling auf die Straßen der DDR und unternahm einen Fluchtversuch – Republikflucht.
Das brachte ihn ins Gefängnis. 1970 wurde er als politischer Gefangener von der
Bundesrepublik Deutschland freigekauft. Gunther beschloss, weiterzustudieren. 1975
promovierte er mit einem Thema, das vor allem dem Ösophagusspinkter gerecht wurde:
Die Wirkung der intravenösen Narkotika Etomidate, Propanidid, Methohexital und der
Inhalationsnarkotika Lachgas, Halothan und Ethrane auf den unteren Ösophagussphinkter.
Der Schließmuskel zwischen Speiseröhre und Magen genügte dem Forscherinstinkt des
Hochbegabten nur bedingt und so beschäftigte er sich von 1977 an in Heidelberg mit
der Imprägnierung anatomischer Präparate. Dort gründete er 1993 sein Institut für
Plastination. Seit dem Jahr 2010 leidet Gunther von Hagens am idiopathischen Parkinsonsyndrom.
Du wendest
dich langsam vom Bild ab, kannst dir ein zynisches Grinsen nicht ersparen und denkst:
Gott sei Dank hat er viele intakte Gehirne zur Verfügung und kann sich das beste
selbst einpflanzen. Schön, wenn einem der eigene Beruf vor Krankheit und
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