Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
Vom Netzwerk:
älter geworden. Wie damals will er wissen, woher ich komme. Als er mein Buch abzeichnet, singt er leise das Wilhelmus für mich, die niederländische Nationalhymne. Durch die Wiederholung gleicht die Zeit eine Sekunde lang der Ewigkeit.

Poseidon XIII
    W ie lange kann man einen Stein betrachten? Cézanne starrte Stunden auf einen Apfel, manche Dinge verlangen einem einiges ab, wenn man etwas über sie wissen will. Ein Apfel für einen Maler, ein Stein für den Dichter. Er liegt hier neben mir, auf dem Tisch, an dem ich schreibe. Grau, würde man sagen, aber stimmt das wirklich? Seine Form ist ein unregelmäßiges Oval, er muß mindestens ein Kilo wiegen, ich fand ihn einst an der Küste und schleppte ihn in meinem Korb auf einer langen Wanderung mit. Seitdem liegt er draußen in einem offenen Ofen auf der Terrasse meines Hauses auf der Insel. Du mußt sie kennen, meine Insel, natürlich ist Odysseus hier gewesen, dem du immer folgtest, und sei es nur, um ihn zu ärgern.
    Warum schreibe ich dir dies? Weil der Stein, der hier neben mir liegt, der einzige greifbare Gegenstand ist, den ich von dir besitze. Am Anfang von Mythen steht kein Datum, ich weiß also nicht, wie alt du bist, doch wenn ich behaupten will, du habest diesen Stein gemacht, mußt du mindestens 350 Millionen Jahre alt sein, denn der Stein stammt aus dem Devon, dem vierten Abschnitt des primären geologischen Zeitalters. Kurz lege ich meine Hand auf ihn, denn aufgrund seines Alters hat er eine Aura von Unsterblichkeit, die einem Ehrfurcht abnötigt. Ich lege also vorsichtig meine Hand auf den Stein. Was spüre ich? Kühle, und Zeit. Jetzt halte ich ihn mit beiden Händen fest, hebe ihn ein wenig an und spüre seine Schwere. Grau, hatte ich gesagt, aber je länger ich ihn betrachte, desto mehr zweifele ich. Es ist wie bei den Quadratmetern Weiß der von Zurbarán gemalten Mönchskutten, wenn man näher kommt,ist es kein Weiß mehr, alles mögliche schimmert hindurch, Nuancen von Weiß und Grau und Blau und Gold. So auch bei meinem Stein. Schmale weiße und rostfarbene Flüsse durchziehen ihn, Bäche, Wasserläufe, die sich verästeln. An anderen Stellen wolkenartige Schimmer eines schmutzigen Weiß.
    Am merkwürdigsten ist jedoch ein kieselfarbenes, gelbweißes breites Band, das meinen Stein eigentlich in zwei Teile teilt, dessen Enden aber, wenn ich ihn umdrehe, sich nicht ganz genau treffen, als wäre bei seiner Erschaffung etwas schiefgegangen. Ja, natürlich hast du ihn gemacht, einst, als du im Devon die Erde erschüttert hast. Du bist es doch, der Erderschütterer? Und das ist noch nicht alles. Du hast einfach gekocht, als seiest du eifersüchtig auf Hephaistos, der in jener anderen Sprache nicht zufällig Vulcanus heißt. Nachdem du allerlei Steinmassen durchgerüttelt und zu mitunter fast weiblichen Formen gefaltet, gefältelt hattest in Augenblicken unvorstellbarer Hitze, haben deine Felswände hier gelegen, eine frisch gestaltete Landschaft, die von niemandem gesehen werden konnte, weil es noch keine Menschen gab. Wie war das eigentlich, ein Gott zu sein ohne Menschen? Hat das Sinn? Langweiltest du dich? Jedenfalls hast du in deiner anderen Erscheinungsform, der des Meeresgottes, begonnen, dein eigenes Kunstwerk mit Salz und mit Stürmen anzufressen, und damit hast du nie mehr aufgehört. Und was geschieht dann? Von einer Felswand bricht ein Stück ab und noch eines und noch eines. Einer der Strände hier liefert den Beweis. Ich muß mühsam dorthin klettern zwischen Disteln und gemeinen Sträuchern, doch es lohnt sich. Dort hast du wirklich etwas Seltsames geschaffen, ein Meer aus Steinen, die sich in langen Jahrhunderten gegenseitig geschliffen haben. Sie sind rund, glatt, von anderen, hellerfarbigen Gesteinsadern durchzogen, Schiefer, Kieselsandstein, was an Eisen darin enthalten war, ist oxydiert, eine Blutfarbe aus Rost. Liegen oder gehen kann man hier nicht, man muß balancieren und von einem größeren Stein zum nächstenspringen. Vielleicht hast du mich gesehen? Einen Sterblichen an einer deiner Küsten, einen Mann, der in deinem Kunstwerk tanzt und versucht, nicht zu fallen, der sich bückt, einen Stein zwischen den anderen herauszieht und mit nach Hause nimmt, um über dich nachzudenken, über dich und das Schicksal von Göttern und Menschen, und der dann in der Stille seines Hauses diesen Stein noch einmal hochhebt, als hielte er mit dieser versteinerten Kühle die Zeit selbst in seinen Händen.

Mädchen
    S päter Abend in

Weitere Kostenlose Bücher