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Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
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Nagasaki. An diesem Tag habe ich Dejima besucht, eine nur zweihundert Meter lange Insel, die wie ein steinerner Fächer in der Bucht liegt. Vor einigen hundert Jahren lebten hier die Niederländer der Vereinigten Ostindischen Kompanie, die einzigen Abendländer, die einen Fuß auf sie setzen durften, und damit die einzige Verbindung Japans zum Ausland. Die Stadt durften sie nur mit Erlaubnis der japanischen Behörden betreten, und der Rest Japans war ganz verboten, eine besondere Form der Gefangenschaft. Wo einst Meer und Land sich berührten, befindet sich jetzt ein neuer Stadtteil. Auf alten Stichen ist das anders. Da liegt ein aufgetakeltes niederländisches Schiff aus dem siebzehnten Jahrhundert etwas weiter draußen im Hafen vor Anker, denn auch ein Schiff durfte nicht am Kai anlegen. Leichter pendelten zwischen Ufer und Schiff, um die Waren dieses ersten multinationalen Unternehmens umzuladen, die aus Amsterdam oder Batavia eingetroffen waren oder aus afrikanischen Häfen entlang der Reiseroute. Die Ankunft dieses einen Schiffs war auf Dejima das Ereignis des Jahres.
    Daß der Raum nicht die Zeit ist, wußte ich bereits, doch an solchen Orten gerät man in Verwirrung. Das Damals mischt sich in das Dort, als ich in der ehemaligen Faktorei Bücher mit Worten in meiner Sprache von damals betrachte, eine lange Liste mit niederländischen Namen. Die Männer, die zu diesen Namen gehörten, kamen aus meiner Stadt. Sie waren Monate oder Jahre unterwegs, Zeit war eine andere Materie, zäh, gedehnt, dickflüssig, sie war knapper, und alles dauerte länger. Das Damals jener Männer und Schiffe windet sich um mich, ich kehre erst im Atombombenmuseum wieder ins Jetzt zurück. Auch dort hat die Zeit etwas zu sagen, eine verformte, beleidigte Uhr ist zum Zeitpunkt des Bombenabwurfs stehengeblieben, um elf Uhr zwei vormittags. An einer Holzwand ein Schatten, der einmal ein Körper war, ein versengter Schemen. Die Überlebenden gespenstischer als die verkohlten Leichen. Später gehe ich an der Werft entlang, jenseits des Wassers die dunklen Hügel, dieselben wie auf den Stichen von damals. Der rauhe Ruf einer späten Fähre, meine eigenen Schritte auf dem Holz der Landungsbrücke, plötzlich hohe Wellen von einem unsichtbaren Schiff. Dann höre ich sie. Zuerst nur leise, weshalb ich nicht weiß, woher das Geräusch kommt. Dann lauter, so daß ich sie finden kann, sie sitzt mit ihrer Gitarre auf einer Steinkante am Fuße einer Art Deich, die Beine baumeln über dem Wasser. Sie ist allein, ihre Stimme hoch und zart, ein Lied in ihrer Sprache, das über die ganze Bucht klingt, selbst aus größerer Entfernung ist sie noch zu vernehmen, eine Frau, die zum Meer singt, der Gott muß sie gehört haben.

Blutmond
    B lutmond, Jagdmond, so heißt der Mond an diesem Abend. Es ist der angekündigte Vollmond dieses Oktobertags, der pünktlich erscheint, jetzt wirklich ein Himmelskörper, der genau gegenüber der untergehenden Sonne groß und rund über dem Horizont hängt und minutenlang so tut, als würde er sich nie mehr bewegen. Planet und Stern, es scheint, als hätte der eine den anderen mit heller Mennige in der dazugehörigen Abendstimmung geschminkt. Ich blicke über die mediterrane Landschaft, gleich wird es dämmern, dann ruft die Eule ganz nah und die Triele etwas weiter weg, am Meer. Soweit ist alles in Ordnung, das verstehe ich, Feigenbaum, Oleaster, nichts regt sich, dies bin ich, dies ist mein Garten, meine Insel, meine Welt, mein Universum. In der spanischen Zeitung heute ein Bericht über die neuen Nobelpreisträger Perlmutter, Schmidt, Riess, die Meisterjäger der Supernovä.
    Der diesen Artikel geschrieben hat, weiß, für wen er schreibt, für Menschen, die nach der Lektüre unsicher einen raschen Blick auf den Himmel werfen, um zu überprüfen, ob auch alles wahr ist, was er da sagt, ob das All sich tatsächlich jetzt, während wir zuschauen, ausdehnt, obgleich an diesem Abend alles so still scheint. Vielleicht liegt es daran, daß der Verfasser das Wort Nüsse verwendet, in meiner Sprache noten , ein Wort, das einen Teil meines Namens bildet, jedenfalls verstehe ich seinen Vergleich. Wenn man ein Nußbrot in den Ofen legt, schreibt er, geht der Teig auseinander, nicht aber die Nüsse. Die Sternsysteme sind die Nüsse, und der Raum zwischen ihnen dehnt sich aus. Estirar , dehnen. Einerlei, von welchem Sternsystem aus man ins All blickt, sagt er, man wird immerdenken, man selbst stehe still, während sich der Rest von

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