Nora Roberts
ein Schild mit der Aufschrift »Letzte Kneipe vor New York«, bei dessen Anblick sie beinahe zu lächeln begann.
Als er den Laster parkte, stellte sie erleichtert fest, daß an diesem Morgen niemand anderes zu den Klippen gekommen war. Sie waren ganz allein mit dem heulenden Wind, den zerklüfteten Felsen, der Brandung, die gegen die Steine schlug – und dem Geflüster der Geister der Vergangenheit.
Sie kletterte mit ihm den schmalen unbefestigten Weg zwischen den hohen Gräsern zum äußersten Rand von Irland hinab, wobei ihr der über das dunkle Wasser und die schäumende Gischt peitschende Wind entgegenschlug. Das Donnern der Wogen war einfach wunderbar. Im Norden machte sie die Cliffs of Moher und die in Nebelschwaden getauchten Aran-Inseln aus.
»Hier sind sie sich zum ersten Mal begegnet.« Sie verschränkte die Finger mit denen von Murphy, als er ihre Hand ergriff. »Meine Mutter hat es mir an dem Tag, als sie ins Koma fiel, erzählt. Sie hat mir erzählt, wie sie ihm hier begegnet ist. Es hat geregnet, es war kalt, und er war allein. Und sofort hat sie sich in ihn verliebt. Sie wußte, daß er verheiratet und Vater zweier Töchter war. Sie wußte, daß es nicht richtig war. Es war falsch, Murphy, ob ich es will oder nicht, es war falsch.«
»Meinst du nicht, sie haben dafür einen hohen Preis bezahlt?«
»Ich glaube, sie haben mehr als genug dafür bezahlt. Aber das ...« Sie brach ab und räusperte sich. »Es war einfacher für mich, als ich noch nicht wirklich geglaubt habe, daß er sie geliebt hat. Als ich ihn nicht als einen guten Menschen sehen konnte, als einen Vater, der mich geliebt hätte, wenn alles anders gewesen wäre, als es nun einmal war. Schließlich hatte ich einen Vater, von dem ich geliebt worden bin«, sagte sie voller Leidenschaft. »Und das vergesse ich ihm nie.«
»Du brauchst nicht den einen weniger zu lieben, damit du dem anderen dein Herz ein wenig öffnen kannst.«
»Es gibt mir das Gefühl, ihm gegenüber untreu zu sein.« Noch ehe Murphy widersprechen konnte, schüttelte sie den Kopf.»Es ist egal, daß dieses Gefühl unlogisch ist. Ich empfinde es nun einmal so. Ich will weder Tom Concannons Augen noch sein Blut noch ...« Sie preßte ihre Hand gegen den Mund und brach in Tränen aus. »An dem Tag, als sie es mir erzählt hat, habe ich etwas verloren, Murphy. Ich habe das Bild, die Illusion, den glatten, ruhigen Spiegel, der meine Familie war, verloren. Er ist zerbrochen, und jetzt liegen überall die Scherben herum, die es neu zusammenzusetzen gilt.«
»Und wie siehst du dich selbst in diesem Spiegel?«
»Ich habe das Gefühl, als wären die einzelnen Teile nicht mehr an ihrem Platz, als gäbe es plötzlich neue Verbindungen, vor denen ich die Augen nicht einfach verschließen kann. Und ich habe Angst, daß ich nie mehr zurückbekomme, was einmal mein Leben war.« Sie sah ihn verzweifelt an. »Meinetwegen hat sie ihre Familie verloren, hat sie die Schande und die Angst vor dem Alleinsein durchgemacht. Meinetwegen hat sie einen Mann geheiratet, den sie nicht liebte.« Shannon wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. »Ich weiß, irgendwann hat sie ihn geliebt. Ein Kind weiß, ob seine Eltern einander in Liebe verbunden sind – man spürt es, genau wie man Streit spürt, von dem die Erwachsenen meinen, man bekäme ihn nicht mit. Aber trotzdem hat sie Tom Concannon nie vergessen, trotzdem hat er immer einen Platz in ihrem Herzen gehabt, trotzdem hat sie sich bis zum Schluß an die Gefühle erinnert, die sie hatte, als sie hierher zu den Klippen kam und ihn allein im Regen stehen sah.«
»Und du wünschtest, sie hätte es vergessen.«
»Ja, ich wünschte, sie hätte es vergessen. Und ich hasse mich für diesen Wunsch. Denn wenn ich das wünsche, weiß ich, ich denke weder an sie noch an meinen Vater, sondern einzig und allein an mich.«
»Es tut mir weh zu sehen, wie hart du dir selber gegenüber bist, Shannon.«
»Nein, das bin ich nicht. Du hast ja keine Ahnung, wie leicht, ja geradezu vollkommen mein Leben bis dahin immer war.« Sie blickte wieder aufs Meer hinaus. »Ich hatte Eltern, die mir beinahe jeden Wunsch von den Augen abgelesen haben. Die mir vertrauten, die mich respektierten, von denen ich geliebt worden bin. Sie haben dafür gesorgt, daß ich immer von allem das Beste bekam. Ein schönes Zuhause in einer guten Nachbarschaft, gute Schulen. Es hat mir weder gefühlsmäßig noch materiell betrachtet je an irgend etwas gefehlt. Sie
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