Nora Roberts
Richtung kam.
Er hatte eine wunderbare Art zu gehen, dachte sie. Er stapfte nicht, er stolzierte nicht, und trotzdem verriet sein Gang, welches unerschütterliche Selbstvertrauen er besaß. Sie mußte zugeben, daß es ein Vergnügen war, der rauhen Männlichkeit seiner Bewegungen zuzusehen.
Wie ein lebendiges Bild. Irischer Mann. Ja, genau das war es – die langen, muskulösen Arme in dem bis zu den Ellbogen hochgerollten Arbeitshemd, die Jeans, die bereits Dutzende Male gewaschen worden, die Stiefel, mit denen er bestimmt unzählige Meilen gelaufen war. Unter der Mütze, die er tief in die Stirn gezogen hatte, blickten leuchtendblaue Augen hervor, und sein ausdrucksvolles Gesicht strahlte eine geradezu mystische Schönheit aus.
Er war durch und durch ein Mann, überlegte sie. Keiner der geschniegelten Geschäftsmänner, die sie des öfteren in Tausend-Dollar-Anzügen mit einem Dutzend Sterling-Rosen in den manikürten Händen die Madison Avenue herunterlaufen sah, verströmte eine solche Aura des Erfolgs wie Murphy Muldoon, wenn er in abgetragenen Stiefeln, einen Strauß Wildblumen in der Hand, über seine Felder schritt.
»Wie angenehm, sich einer Frau zu nähern, die einem mit einem Lächeln entgegenblickt.«
»Die Szene hätte aus einem Dokumentarfilm stammen können. Irischer Farmer geht über sein Land.«
Diese Bemerkung verwirrte ihn. »Mein Land endet an der Mauer dort.«
»Was offenbar nicht weiter von Bedeutung ist.« Amüsiert blickte sie auf den Strauß, den er in den Händen hielt. »Nennt man so etwas nicht Eulen nach Athen tragen?«
»Wohl kaum, denn die Blumen sind tatsächlich von meinem Land. Und da ich auf dem Weg hierher an dich dachte, habe ich sie gepflückt.«
»Sie sind wunderschön. Vielen Dank.« Sie tat, was jede Frau getan hätte, und vergrub ihr Gesicht in dem Strauß. »Ist das dein Haus, das durch mein Fenster zu sehen ist? Das große Steingebäude mit den vielen Schornsteinen?«
»Allerdings. «
»Ziemlich viel Haus für einen Mann. Und wenn man dann noch all die anderen Gebäude nimmt ...«
»Eine Farm braucht nun mal ein oder zwei Scheunen, Unterstände und so. Falls du eines Tages mal vorbeikommst, führe ich dich gern herum.«
»Vielleicht mache ich das.« Als sie Geschrei vernahm, blickte sie zum Haus hin. Sie bezweifelte, daß das bereits alles war.
»Es scheint, als wäre Maeve da«, murmelte Murphy. »Mrs. Concannon.«
»Genau.« Plötzlich kam ihr ein Gedanke, und sie wandte sich wieder Murphy zu. »Genau wie du. Willst du mir etwa erzählen, daß das ein Zufall ist?«
»Will ich nicht. Maggie hat mich angerufen, um mir zu sagen, daß die Stunde der Wahrheit gekommen ist.«
Zorn und zugleich ein unerwarteter Beschützerinstinkt wallten in Shannon auf. »Sie sollte selbst hier sein, damit Brie die Sache nicht alleine ausbaden muß.«
»Das ist sie auch. Sie ist diejenige, die man bis hierher schreien hört.« Mit einer lockeren Geste, die nicht verriet, daß er sie schützen wollte, nahm er Shannons Hand und führte sie auf sein Feld hinaus. »Maggie und ihre Mutter fahren einander wie zwei wütende Terrier an die Kehlen, wenn man nicht dazwischengeht. Maggie macht das absichtlich, damit Maeve Brianna in Ruhe läßt.«
»Weshalb streiten sie überhaupt?« wollte Shannon wissen. »Die beiden haben doch mit der Sache nicht das geringste zu tun.«
Einen Moment lang sah sich Murphy schweigend die Blüten eines Schlehdornbusches an. »Haben deine Eltern dich geliebt, Shannon?«
»Natürlich haben sie das.«
»Und du hattest nie auch nur den geringsten Grund, dies zu bezweifeln oder diese Liebe gründlich zu durchleuchten, um zu sehen, ob sie vielleicht nicht vollkommen ist?«
Gereizt, da ihr die plötzliche Stille im Haus bedrohlicher als das laute Geschrei erschien, schüttelte sie den Kopf. »Nein. Wir haben einander geliebt, wie man einander nur lieben kann.«
»Mir ging es genauso.« Als hätte er alle Zeit der Welt, zog er sie neben sich aufs Gras und stützte sich rückwärts auf seinen Ellbogen ab. »Ich habe nie darüber nachgedacht, welches Glück ich hatte, denn es war einfach da. Jeder Stupser, jede Zärtlichkeit, die meine Mutter mir je gegeben hat, war von Liebe geprägt. Und selbst wenn sie mich gescholten hat, hat sie das nur aus Liebe getan.«
Er griff spielerisch nach Shannons Hand und zupfte an ihren Fingern herum. »Ich glaube, ich habe gar nicht weiter darüber nachgedacht. Aber direkt nebenan haben Maggie und Brie gelebt, und ich konnte
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