Nora Roberts
Transportschäden
hin zu untersuchen. Sein schlechtes Gewissen dabei machte ihn wütend. Er tat
nur seinen Job, beruhigte er sich.
Außerdem war es ihr geliebter Onkel Charlie gewesen, der ihn in diese
Situation gebracht hatte. Ein Jahr noch, sagte sich
Slade. Ein Jahr noch, und dann gäbe es für ihn keinen Commissioner mehr, der
ihm Spezialaufträge zuschusterte, bei denen er als Babysitter und gleichzeitig
als verdeckter Ermittler auf Patentöchter mit Bernsteinaugen angesetzt würde.
Er fand
nichts. Sein Instinkt hatte ihm das bereits gesagt, aber Slade hätte auch ein
winziges Detail gereicht, um seine Anwesenheit
zu rechtfertigen. Jessica gab keine Sekunde Ruhe. Während
der zwei Stunden, die es dauerte, den Lastwagen abzuladen, war sie überall,
polierte und arrangierte die Möbel und
schleppte leere Kartons nach draußen. Als es nicht mehr zu tun gab, sah sie
sich trotzdem noch nach weiterer Arbeit um.
»Das
war's«, erklärte Slade, ehe sie noch befinden konnte, dass dieser Stuhl oder
jene Truhe an einem anderen Platz vielleicht besser zur Wirkung käme.
»Ich
glaube, Sie haben Recht«, stimmte sie ihm zu und rieb sich abwesend den Rücken.
»Gut, dass diese drei Stücke am Montag
ausgeliefert werden. Es ist nämlich ein bisschen voll hier
drinnen. Mein Gott, ich bin am Verhungern.« Sie drehte sich mit einem
entschuldigenden Lächeln zu ihm um. »Ich hatte nicht
vorgehabt, Sie so lange hier festzuhalten, Slade. Es ist schon nach fünf.« Ohne
ihm Gelegenheit zum Antworten zu geben, sauste sie ins Hinterzimmer, um ihre
Jacken zu holen. »Hier. Ich sperre jetzt zu.«
»Wie wär's
mit einem Hamburger und einem Film?«, meinte er spontan. Ich behalte sie nur im
Auge, rechtfertigte er sich. Dazu bin ich schließlich hier.
Jessica,
die gerade dabei war, das letzte Rollo herunterzulassen, drehte sich überrascht
um. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, bedauerte er seinen Vorschlag
bereits, dachte sie amüsiert. Was jedoch kein Grund war, ihm aus der Patsche zu
helfen. »Was für eine romantische Einladung. Wie könnte ich die abschlagen?«
»Sie wollen
es romantisch?«, konterte er. »Gut, dann fahren wir in ein Autokino.«
Sie stieß
ein gurgelndes Lachen aus, als er sie an der Hand nahm und nach draußen zog.
Es war
schon spät, als das Telefon klingelte. Die sitzende Gestalt griff gleichzeitig
nach dem Hörer und einer Zigarette. »Hallo.«
»Wo ist der
Sekretär?«
»Der
Sekretär?« Stirnrunzelnd hielt der Mann die Flamme des Feuerzeugs an die
Zigarette und inhalierte tief. »Der ist bei der zweiten Sendung dabei.«
»Sie irren
sich«, sagte die Stimme, leise und kalt. »Ich war selbst im Laden.«
»Er muss
dabei sein.« Panik stieg in seiner Kehle hoch. »Jessica hat ihn wahrscheinlich
noch nicht ausgepackt.«
»Möglich.
Sie werden das unverzüglich abklären. Spätestens Mittwoch habe ich den
Sekretär nebst Inhalt.« Es folgte eine kurze Pause. »Sie kennen die Strafe für
Fehler.«
3
Jessica erwachte mit dem Gedanken an Slade.
Es war Sonntagmorgen, und sie nahm sich die Zeit, in aller Ruhe über den
höchst merkwürdigen Samstag nachzudenken, den sie verbracht hatte – größtenteils
mit Slade. Ein launischer Mensch, überlegte sie und streckte sich träge. Sie
hatte sich in seiner Gegenwart
abwechselnd wohl gefühlt, war wütend auf ihn geworden und hatte sich zu ihm
hingezogen gefühlt. Nein, das stimmte nicht ganz, verbesserte sie sich. Selbst
wenn sie sich wohl gefühlt hatte oder wütend auf ihn war, hatte sie sich zu ihm
hingezogen gefühlt. Er hatte etwas Unnahbares an sich, das sie reizte, ein
wenig an dieser Mauer zu kratzen. Das hatte sie auch mehrmals versucht, doch
ohne den geringsten Erfolg. Er war kein Mann, der Geheimnisse enthüllte oder
seine Zeit mit Smalltalk verschwendete. Er vereinigte in sich eine
merkwürdige Kombination von Direktheit und Reserviertheit.
Er
schmeichelte nicht – weder mit Worten, noch mit Blicken. Und dennoch war sie
sicher, dass sie ihm nicht gleichgültig war. Es konnte nicht sein, dass sie
sich diese Momente körperlicher Anziehung nur eingebildet hatte. Es hatte sie
gegeben, für ihn genauso wie für sie. Aber er war auf der Hut, dachte sie mit
einem Anflug von Enttäuschung. Sie kannte keinen Mann, der sich so unter
Kontrolle hatte. Diese dunklen, intensiv blickenden Augen hatten ihr ganz
deutlich zu verstehen gegeben: »Bleib auf Abstand; eine Armlänge.« Während die
Vorstellung, sein Schutzschild zu durchbrechen, sie fraglos
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