Nora Roberts
kam gerade durch die Halle,
als sie den Fuß auf die zweite Stufe setzte. »Alles okay?«
Plötzlich
wollte sie nur noch weinen – sich umdrehen, in seine Arme stürzen und weinen.
Stattdessen schnappte sie zurück: »Nein, überhaupt nichts ist okay. Wie, zum
Teufel, kommst du darauf?«
»Du hast
getan, was du tun musstest« erwiderte er ruhig. »Er wird sich schon nicht von
der nächsten Klippe stürzen.«
»Was weißt
du denn schon!«, schoss sie zurück. »Du hast doch nicht einen Fingerhut voll
Gefühl im Leib. Du weißt nicht, wie es ist, jemanden zu lieben. Und man muss
ein Herz besitzen, um Schmerzen zu empfinden.« Sie wirbelte auf dem Absatz
herum und rannte die Treppe hinauf, schaffte es beinahe bis zur Hälfte, und
blieb dann abrupt stehen. Sie kniff die Augen ganz fest zusammen und schlug mit
der Faust aufs Treppengeländer. Nach einem tiefen Atemzug drehte sie sich um
und kam die Stufen wieder langsam herunter. Slade stand unten an der Treppe und
wartete.
»Es tut mir
Leid.«
»Warum?«
Weil ihre Worte ihn tiefer getroffen hatten, als ihm lieb war, zuckte er die
Achseln. »Du warst auf dem richtigen Weg.«
»Nein, war
ich nicht.« Sie rieb sich erschöpft die Stirn. »Und ich hatte nicht das Recht,
meinen Frust an dir auszulassen. Du hast mir heute sehr viel Unterstützung
gegeben, und dafür bin ich dir sehr dankbar.«
»Geschenkt!«,
meinte er und wandte sich ab.
Jetzt war
sie es, die ihm Einhalt gebot. »Slade.« Er stieg noch zwei Stufen höher,
fluchte und drehte sich dann um. Seine Augen waren dunkel und funkelten vor
unterdrückter Wut, als ob ihre Entschuldigung ihn mehr aufgebracht hätte als
ihre Beleidigungen. »Ich weiß, dass du möglicherweise anders darüber denkst,
aber für Freundlichkeit kommt man nicht in die Hölle.«
Damit ließ
sie ihn stehen. Slade starrte ihr sprachlos hinterher, als sie ihren Weg nach
oben fortsetzte.
5
Um zwei
Uhr morgens hörte
Jessica die alte Steth-Thomas-Standuhr in der Halle zwei Mal schlagen.
Körperlich war sie fix und fertig, doch ihr Verstand lief noch immer auf
Hochtouren. Slades unrhythmisches Schreibmaschinengehacke
hatte schon vor einer Stunde aufgehört. Er konnte schlafen, dachte sie beinahe
ärgerlich und drehte sich auf den Rücken, um wieder die Decke anzustarren. Aber
er stand ja auch nicht in der Mitte eines emotionalen Wirbelsturms.
Ihre
Gedanken streiften Michael und sie seufzte. Nein, sei ehrlich, ermahnte sie
sich. Es war nicht Michael, der sie wach hielt, sondern der Mann zwei Türen
weiter auf der linken Seite des Korridors.
Eingehüllt
von der Dunkelheit und den weichen Laken, glaubte sie den Sand unter ihrem
Rücken zu spüren, die Sonne auf ihrer Haut und den schneidenden Wind im
Gesicht. Seinen Körper, der sich an den ihren presste. Begierde flammte in
ihrem erschöpften Körper auf, ihr Puls beschleunigte sich, obwohl sie
versuchte, ganz ruhig zu bleiben. Das süße Ziehen in ihrem Leib wanderte
langsam zu ihren Brüsten empor. Mit einem Seufzer sprang Jessica aus dem Bett
und warf sich den Morgenrock über. Alles, was sie brauchte, war etwas Heißes zu
trinken, um endlich einschlafen zu können, entschied sie in ihrer
Verzweiflung. Und wenn das nichts half, würde sie den Fernseher anstellen und
sich von einem alten Schnulzenfilm in den Schlaf lullen lassen. Am Morgen hätte
sie sich dann wieder richtig im Griff. Sie würde sich wieder in die Arbeit
stürzen und Slade solange aus dem Weg gehen, bis er das Chaos in der Bibliothek
gelichtet hatte und wieder dorthin verschwunden war, wo er hergekommen ist.
Jessica
schlüpfte durch ihre Tür und huschte barfuß durch den breiten Flur. Vor Slades
Tür blieb sie stehen und streckte sogar eine Hand nach dem Türgriff aus, ehe
sie sich zur Räson rief. Verdammt, was hast du dir dabei gedacht?, fluchte sie
lautlos und eilte weiter zur Treppe. Vielleicht sollte sie lieber einen Brandy
trinken statt etwas Heißes, entschied sie.
Ganz
entgegen ihrer Gewohnheit schlich sie lautlos die Treppe hinunter, vermied auf
die Stellen zu treten, die knarrten und ächzten. Ein doppelter Brandy und ein
alter Film, das war es. Wenn sie danach nicht einschlief, konnte sie die Hoffnung
auf ein paar Stunden Schlaf endgültig begraben. Als sie sah, dass die Türen zum
Salon geschlossen waren, runzelte sie nachdenklich die Stirn. Wer hat die denn
zugemacht?, wunderte
sie sich und sagte sich dann achselzuckend, dass es wohl Slade gewesen sein
musste, ehe er hinauf in die Bibliothek gegangen
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