Nora Roberts
... Jessie, wohin gehst du? Er sagte, du darfst das Haus nicht ver
lassen. Jessie, hast du gehört? Außerdem hast du deinen Mantel vergessen. So
warte doch einen Moment!«
Doch
Jessica stürmte schon die Eingangstreppe herab und auf ihren Wagen zu.
11
Slade brauchte keine Minute, um das
Schloss an der vorderen Ladentür zu knacken. Ehe er wieder nach New York ging,
würde er unbedingt dafür sorgen, dass Jessica sich anständige Schlösser
einbauen ließ. Es grenzte wahrlich an ein Wunder, dass man ihr bisher noch
nicht den Laden leergeräumt hatte, überlegte er, während er durch den
Verkaufsraum ins Hinterzimmer ging. Jessica hatte wirklich mehr Glück als Verstand.
Er warf seine Jacke über einen Stuhl. Im Dunkeln tastete er sich durch die
kleine Küche in den angrenzenden Raum, der als Büro fungierte.
Auf dem
wuchtigen Mahagoni-Schreibtisch lagen ordentlich gestapelte Packen mit
Rechnungen und Lieferscheinen, eine Schreibunterlage, vollgekritzelt mit Namen
und Telefonnummern, daneben stand eine Tiffanylampe. Slade knipste sie an. Im
Lichtkreis der Lampe entdeckte er eine Notiz in fetten Großbuchstaben: ULYSSES BRAUCHT FUTTER, und darunter in krakeliger Schreibschrift: »Neuer
Besenstil – Betsy schon stinksauer.« Grinsend schüttelte Slade den Kopf. Jessicas
Auffassung von Organisation war wirklich eine Klasse für sich. Er wandte sich
ab und trat vor den Aktenschrank, der hinter dem Schreibtisch in einer Ecke
stand.
Die oberste
Schublade war offenbar Jessicas privater Ablage vorbehalten. In einem Ordner
mit der Aufschrift VERSICHERUNGSPOLIZEN-LADEN fand er die Verkaufsquittung für
eine Bluse, die sie vor zwei Jahren erstanden hatte. Zwischen zwei anderen
Aktenmappen klemmte ein verknitterter Einkaufszettel. Missmutig schnaubend zog
er die zweite Lade auf.
Hier
herrschte peinlichste Ordnung. Die Akten waren Ecke auf Ecke gestapelt,
leserlich beschriftet und chronologisch geordnet. Er blätterte die Stapel kurz
durch. Sie enthielten die Verkaufsbelege des laufenden Jahres, Lieferscheine
und geschäftliche Korrespondenzen. Jede Akte war ein Musterbeispiel an
buchhalterischer Akkuratesse. Er dachte an die oberste Schublade und
schüttelte abermals den Kopf.
In der
dritten Lade fand er, wonach er suchte – die Verkaufsbelege des vorigen
Jahres. Slade nahm den ersten Ordner heraus und legte ihn auf den
Schreibtisch. Dann ging er jede Rechnung einzeln durch, beginnend im Monat
Januar. Als er das erste Quartal durchgesehen hatte, wusste er nicht mehr, als
dass Jessicas Laden fantastisch lief.
Er legte
den ersten Ordner zurück und nahm sich das zweite Quartal vor. Die Zeit verging
rasch, während er jeden einzelnen Beleg prüfte. Er zündete sich eine Zigarette
an und arbeitete sich geduldig von Monat zu Monat vor. Im Juni wurde er endlich
fündig. Ein Chippendale-Schrank – Ebenholz mit Intarsienarbeit. Beim
Anblick des Preises machten seine Brauen einen erstaunten Satz.
»Kein
schlechtes Geschäft«, murmelte er und lächelte, als er den Namen des Käufers
las. »Jeder macht einen hübschen, kleinen Profit.« Er steckte die Quittung ein
und griff zum Telefon. Brewster könnte Davids Geschichte vielleicht recht interessant
finden. Er hatte gerade zwei Ziffern gewählt, als er ein Auto vor dem Laden
vorfahren hörte. Mit der einen Hand knipste er das Licht aus, mit der anderen
zog er die Pistole.
Jessica raste die kurvige Landstraße
entlang, die zu ihrem Laden führte. Wenn sie nur einen Funken Verstand
besessen hätte, ärgerte sie sich, hätte sie David aufgetragen, die Nummer
anzurufen, die Slade ihm gegeben hatte. Warum hatte sie ihm nicht wenigstens
gesagt, er solle es solange weiter im Laden versuchen, bis er Slade erreicht?
Nervös warf
sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. Zehn Uhr! O Gott, wenn sich der
Mann, der Michael dort treffen wollte, doch nur verspäten würde! Slade war bestimmt
im Hinterzimmer und stöberte die alten Rechnungen durch. Was würde der Mann
tun, wenn er statt Michael Slade im Laden vorfand? Sie trat noch härter aufs
Gaspedal und fegte durch eine Kurve.
Die
Scheinwerfer eines entgegenkommenden Wagens blendeten sie so, dass sie vor
Schreck das Lenkrad herumriss und der Wagen ins Schlingern geriet. Kieselsteine
knallten scheppernd gegen die Kotflügel, doch dann brachte sie ihn wieder auf
die Fahrbahn zurück.
Prima,
dachte sie, während ihr das Herz in der Kehle hämmerte, fahr den Wagen nur zu
Schrott. Damit hilfst du allen in dieser Situation am meisten. Leise
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