Nora Roberts
heute
nicht?«
»Nein,
nicht be...«
Die Worte
erstarben auf seinen Lippen, als er die Frau ansah. Er kannte dieses Gesicht;
er hatte es schon auf Fotos gesehen. Es war schmal, mit Sommersprossen auf
Nase und Wangen. Die Frau trug einen unförmigen, khakibraunen Hut auf ihren
unfrisierten, von silbernen Strähnen durchzogenen Haaren. Und ihre dunkelgrünen
Augen waren unverwechselbar.
»Sie sind
Stella Quinn.« Stella Quinn, die schon seit zwanzig Jahren tot ist, dachte er,
während er zu begreifen versuchte, was hier vor sich ging.
»Kannst
mich Stella nennen, mein Junge, schließlich bin ich deine Großmutter. Aus dir
ist ein gut aussehender Mann geworden, das muss ich schon sagen. Aber ich habe
mir immer gedacht, dass es einmal so kommen würde.« Sie zog ihn neckend an
seinem kleinen Pferdeschwanz. »Du brauchst dringend einen Haarschnitt.«
»Ich
glaube, ich träume.«
»Ich
schätze, das tust du auch«, erwiderte sie leichthin, aber ihre Hand bewegte
sich von seinem Haar zu seiner Wange und rieb sie einmal, bevor sie seine
Sonnenbrille ein Stück nach vorn zog. »Du hast Rays Augen. Ich habe mich damals
zuerst in seine Augen verliebt, musst du wissen.«
»Ich wollte
Sie ... dich immer schon einmal kennen lernen.« Im Traum werden Wünsche wahr,
dachte er.
»Tja und da
wären wir nun.« Mit einem Kichern schob sie seine Sonnenbrille wieder hoch. »Es
ist doch nie zu spät, nicht wahr? Ich habe mir nie viel aus Angeln gemacht.
Aber das Wasser, das habe ich gemocht – habe es immer gern
betrachtet, bin gern darin geschwommen. Aber Angeln ist gut, wenn man nachdenken
oder einfach an gar nichts denken will. Wenn man schon vor sich hinbrütet,
kann man dabei auch einen Köder ins Wasser halten. Man weiß ja nie, was man
herauszieht.«
»Ich habe
noch nie von dir geträumt. Nicht so.«
Tatsächlich
hatte er noch niemals zuvor in seinem Leben mit einer solchen Klarheit
geträumt. Er spürte das warme Fell des hechelnden Hundes unter seiner Hand und
das regelmäßige Klopfen seines Herzens.
Er spürte
das Brennen der Sonne auf seinem nackten Rücken und konnte in der Ferne das
Tuckern und Surren eines Bootes hören. Der Eichelhäher setzte nicht für eine
Sekunde mit seinem durchdringenden Gesang aus.
»Wir
dachten uns, es sei an der Zeit, dass ich meinen großmütterlichen Pflichten
nachkomme.« Stella tätschelte Seth liebevoll das Knie. »Großmutter spielen zu
können habe ich sehr vermisst, als ich noch hier war. Mich um die Babys
kümmern, die nach und nach kommen, dich und die anderen verwöhnen. Das Sterben
ist verdammt unpraktisch, lass es dir gesagt sein.«
Als er sie
nur anstarrte, ertönte ein langes, glockenhelles Lachen aus ihrem Mund. »Es ist
ganz normal, dass du ein wenig erschrocken bist. Schließlich sitzt man nicht
jeden Tag da und unterhält sich mit einem Geist.«
»Ich glaube
nicht an Geister.«
»Das kann
ich dir nicht übel nehmen.« Sie blickte auf das Wasser hinaus und etwas in
ihrem Gesicht erzählte von einer uneingeschränkten Zufriedenheit. »Ich hätte
Plätzchen für dich gebacken, obwohl ich nie eine gute Köchin gewesen bin. Aber
man kann nicht alles haben, also nimmt man das, was man kriegen kann. Du bist
Rays Enkelsohn, also auch der meine.«
In Seths
Kopf drehte sich alles, und doch fühlte er sich nicht schwindelig. Sein Puls
raste, aber er verspürte keine Furcht. »Er war immer gut zu mir. Ich hatte ihn
nur für eine kleine Weile, aber er war...«
»Anständig.«
Sie nickte, als sie das Wort aussprach. »Das war es, was du Cam gesagt hast,
als er dich fragte. Ray war anständig, sagtest du, und bis dahin hattest du in
deinem Leben wenig Anständigkeit erlebt, du armer Junge.«
»Ray hat
mein Leben verändert.«
»Er hat dir
eine Chance gegeben, es zu verändern, und du hast bis jetzt verdammt gute
Arbeit geleistet. Man kann sich
nicht aussuchen, wo man herkommt, Seth. Meine Jungs und du, ihr wisst das
besser als sonst jemand. Aber du kannst dir aussuchen, wo du einmal endest und
wie du dorthin kommst.«
»Ray hat
mich bei sich aufgenommen, und deswegen ist er gestorben.«
»Wenn du
das glaubst, dann bist du nicht so klug, wie jeder denkt. Ray wäre sehr
enttäuscht, so etwas aus deinem Mund zu hören.«
»Wenn ich
nicht gewesen wäre, wäre er damals nicht auf dieser Straße gefahren.«
»Woher
willst du das denn wissen?« Stella tätschelte ihn erneut. »Wenn nicht diese
Straße an jenem Tag, dann eine andere
Straße an einem anderen Tag. Der verdammte
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