Noras Erziehung
Parteipolitik kannst du dir auch später noch Gedanken machen. Ich bin übrigens Giles Lancaster, Protokollführer im Studentenparlament– das heißt, ich bin dafür verantwortlich, die Debatten aufzuzeichnen.»
«Ich weiß, was ein Protokollführer tut, danke. Aber ist es denn nicht sehr wichtig, Mitglied einer der großen Parteien zu sein?»
«In keiner Weise. Es ist viel wichtiger, deine Debattierfähigkeiten unter Beweis zu stellen und ins Studentenparlament zu kommen. Für eine politische Karriere gibt es keinen besseren Start, als dort Präsident zu werden. Wenn du denn wirklich Karriere in der Politik machen willst.»
Der Mann war ganz offensichtlich jemand, den es sich zu kennen lohnte, und ich ertappte mich dabei, wie ich zurückruderte.
«Auf jeden Fall. Tut mir leid, dass ich dich eben so angefahren habe, aber ich dachte, du wolltest mich nur runtermachen. Darf ich dich auf einen Kaffee oder so was einladen?»
«Nein. Aber du darfst dich von mir zum Essen ausführen lassen. Wie wär’s mit
Les Couleurs
, morgen Abend?»
«Das ist in Thame, richtig?»
«Wie ich sehe, hast du deine Hausaufgaben gemacht. Aber wenn ich dich ausführe, sollte ich dann nicht auch wissen, wie du heißt?»
«Nora Miller, Ersttrimester Philosophie, politische Wissenschaften und Wirtschaft, St. Boniface. Aber ich habe ja die Einladung noch nicht angenommen.»
«Und warum solltest du das nicht tun?»
Seine bloße Arroganz nervte mich derart, dass ich ihm fast eine spitze Antwort gegeben hätte. Außerdem war ich mir durchaus bewusst, dass ich letzte Nacht mit einem anderen Mann geschlafen hatte. Einem Mann, den ich eigentlich zu meinem Freund machen wollte – auch wenn wirnoch gar nicht darüber gesprochen hatten. Auf der anderen Seite war es sicher ein enormer Vorteil, sich gut mit dem Protokollführer des Studentenparlaments zu stellen. Und auch wenn alles an Giles das Wort «Schürzenjäger» schrie – ich musste schließlich nicht die leichte Beute spielen.
«Na gut. Solange es nur ein Essen ist.»
Er grinste lediglich und setzte seinen Weg fort, sodass ich gezwungen war, ihm nachzurufen.
«Wo treffen wir uns denn?»
«Ich hole dich bei deiner Pförtnerloge ab. Sechs Uhr.»
Er ging weiter die Cornmarket Street hinunter und ließ mich mit meinen Gedanken zurück. Giles’ Absichten waren offensichtlich, und ich war nicht in Stephen verliebt. Das drängte die Frage auf, ob ich nicht vielleicht doch die falsche Entscheidung getroffen hatte. Andererseits war Stephens Ziel der Finanzdistrikt von London, während Giles sich anscheinend in die Politik stürzen wollte und damit langfristig nicht unbedingt passend für mich war. Nicht, dass ein langfristiges Interesse an mir von seiner Seite aus wahrscheinlich war. Er schien mehr der Typ zu sein, der so viele naive Neuzugänge wie möglich aufriss. In diesem Fall war es sicher das Beste, die Unberührbare zu spielen. Vielleicht würde mich das interessanter machen oder mir eventuell sogar ein bisschen Respekt einbringen. Auf dem Rückweg zum College schwor ich mir, mich nicht von ihm ins Bett kriegen zu lassen.
Ich entschloss mich, Giles’ Ratschlag anzunehmen und zumindest so lange unabhängig zu bleiben, bis ich eine bessere Vorstellung des Für und Wider hatte, die ein Beitritt zu einer der verschiedenen Parteien mit sich bringen würde. Da sich mir endlich eine großartige Möglichkeit bot, michin die Kreise des Studentenparlaments einzubringen, ging ich zum Fluss, um Stephen beim Rudern zuzuschauen. Es war ein wunderschöner Herbstnachmittag. Die Sonne schien, und das gelbe Laub auf dem Asphalt wurde von einer leichten Brise durcheinandergewirbelt. Während ich über die St. Aldate’s Street hinunter zum Fluss spazierte, fühlte ich mich bereits als Teil der Universität. Der Eindruck, meine Anwesenheit hier gar nicht verdient zu haben, hatte einem Gefühl von Privilegiertheit Platz gemacht und ließ auch die Entschlossenheit wieder aufkeimen, das Beste aus meiner Zeit hier zu machen.
Die Boote von Emmanuel waren bereits auf dem Wasser, und Stephen versuchte sich als Nummer sieben. Er war so mit seinem Sport beschäftigt, dass er mich gar nicht bemerkte. So gab ich mich damit zufrieden, am Ufer zu stehen und seinen Körper und die Kraft seiner Bewegungen zu bewundern. Während ich ihn beobachtete, musste ich daran denken, wie viel Lust er mir in der letzten Nacht bereitet und wie entschlossen er die Kontrolle übernommen hatte, als er einmal erregt
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