Noras Erziehung
nicht davon aus, dass er damit aufhört. Und du?»
Sie schaute mir voller Zweifel und Sehnsucht in die Augen. Ich wusste, was sie mich eigentlich damit fragen wollte, und gab ihr einen Kuss, um sie zu beruhigen. Trotz meiner Besorgnis ließ sich nicht abstreiten, dass ich mich ihr im richtigen Moment sofort wieder hingeben würde. Das warf allerdings eine neue Frage auf.
«Und was ist mit James?»
«Oh, der hat nichts gegen so was. Wenn du möchtest, kann ich es auch für mich behalten.»
«Peinlich wäre es mir schon. Trotzdem danke. Aber ich habe mich entschieden, es Stephen zu erzählen. Vorausgesetzt, du hast nichts dagegen.»
«Ganz und gar nicht. Ich finde sogar, du solltest es ihm sagen.»
«Ich auch. Aber wie soll ich es ihm sagen?»
«Vielleicht solltest du ihm einfach die Berechtigung erteilen, die er braucht, ohne dabei zuzugeben, dass du Bescheid weißt.»
Ich nickte. Die Idee war zwar höchst berechnend, aber schließlich zog sich diese Berechnung in letzter Zeit durch mein ganzes Leben. Die vergangenen Monate waren voller Winkelzüge und Kompromisse gewesen – erst, um ins Studentenparlament zu kommen, und nun auch in meinem Privatleben. Ich nippte stumm an meinem Kaffee. Dabei versuchte ich krampfhaft, meine emotionalen Bedürfnisse zu ignorieren und mein Leben als kompliziertes und ernsthaftes Spiel zu betrachten.
«Na gut, so mach ich’s. Zurück zur Tagesordnung.»
«Sehr gut.»
Sie klang nicht sehr überzeugt, sagte aber nichts weiter. Ich hatte am Tag zuvor eine Menge Zeit vergeudet und musste viel nachholen. Stephen war sicher in irgendeinerVorlesung. Also warf ich mich schnell in mein schickstes Outfit und machte mich auf den Weg ins Studentenparlament. Nachdem ich die Sache mit den Übertragungsrechten für das Fernsehen selbst in die Hand genommen hatte, musste ich unbedingt mit Giles sprechen, um nicht irgendwelchen Ärger zu kriegen. Ich würde ihm auch sagen, dass ich vorhätte, mich bezüglich Stephen zumindest teilweise an seinen Ratschlag zu halten. So wollte ich ihn indirekt ruhigstellen, um keine Schwierigkeiten durch ihn zu bekommen, wenn ich so eindeutig über seinen Kopf hinweg handelte.
Ich stand in der Empfangshalle und ging die Situation erneut in Gedanken durch, damit auch nichts schiefging, als ein großer, grauhaariger Mann hereinkam. Er schien mir irgendwie bekannt und hatte dieselbe selbstbewusste Ausstrahlung, die Giles auszeichnete. Nur, dass sie bei ihm eher etwas von reifer Würde als von Arroganz hatte. Nachdem er sich einen Moment lang umgeschaut hatte, wandte er sich an mich.
«Entschuldigen Sie. Wissen Sie vielleicht, wo ich Giles Lancaster finden kann?»
«Wahrscheinlich in der Bar. Ich führe Sie gern hin.»
«Ich kenne mich hier aus, danke. Aber ich wäre hocherfreut, Sie zu begleiten.»
Er lächelte und legte mir ausgesprochen sanft eine lenkende Hand auf den Rücken – tief genug, um mich kurz zusammenzucken zu lassen, aber nicht tief genug, um ihm ernsthaft vorwerfen zu können, meinen Po zu betatschen. Ganz offensichtlich ein geiler alter Bock. Aber wenn er Giles Lancaster kannte, dann könnte es sich vielleicht um einen wichtigen geilen alten Bock handeln. Also sagte ich nichts.
Giles saß, wie von mir vermutet, in der Bar und drehte sich um, als wir den Raum betraten. «Onkel Randolph, du bist ja früh dran. Und wie ich sehe, ist es dir bereits gelungen, die wunderschöne und talentierte Nora abzugreifen. Eine gute Wahl.»
Mich überraschte es in keiner Weise, dass es sich bei dem Mann um Giles’ Onkel handelte, und ich nahm den Spruch seines Neffen einfach hin. Außerdem war ich äußerst gespannt, was hier eigentlich vor sich ging. Der Name Randolph hatte zusammen mit dem Gesicht des Mannes irgendeine Erinnerung in mir losgetreten, zu der allerdings noch ein «Sir» gehörte. Wenn ich richtig lag, könnte der alte Herr allerdings überaus wichtig sein. Ich wartete ab, bis die beiden sich begrüßt hatten und Giles auf mich zeigte.
«Honora ist einer unserer klügsten Köpfe. Und die geborene Politikerin – das hoffe ich zumindest. Hast du darüber nachgedacht, was wir gestern Abend besprochen haben, Nora?»
«Ja. Aber ich möchte deinen Onkel nicht mit irgendwelchen Details langweilen.»
«Ich bin sicher, er wäre überaus fasziniert. Aber wir unterhalten uns später. Vielleicht beim Mittagessen? Lust auf eine kleine Stärkung, Onkel Randolph?»
Es war kaum elf Uhr, aber Giles bestellte für uns alle eine Runde Gin Tonic. Ich
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