Noras großer Traum (German Edition)
dass sie noch auf dem Heimweg umdirigiert worden waren und wegen eines Verkehrsunfalls gute drei Stunden später zu Hause eintrafen als geplant. Gott sei Dank war alles glatt gelaufen. Gemeinsam mit Lisa hatte er die Verletzte zwar noch im Flugzeug von einem Baby entbinden müssen, das etwa vier Wochen zu früh dran gewesen war, aber es hatte keine weiteren Komplikationen gegeben, und Mutter und Kind waren wohlauf. Davon hatte er sich eben noch einmal überzeugen können. Müde wischte sich Tom mit dem Handrücken über die Stirn und kurbelte das Seitenfenster runter, um sich den Fahrtwind ins Gesicht wehen zu lassen.
Auch sein Leben war inzwischen wieder ganz von seinem beruflichen Alltag geprägt, und er war froh darüber, hatte ihn diese Tatsache doch erkennen lassen, wie viel ihm seine Aufgabe hier bedeutete. Das Gefühl, wichtig zu sein und dringend gebraucht zu werden, machte ihm deutlich, dass die Enge Deutschlands mit all ihren Krankenhäusern und Ärzten sicher keine Alternative für ihn gewesen wäre. Dennoch war die Erinnerung an Nora noch immer präsent, besonders, wenn er abends zur Ruhe kam. Sie hatte jedoch nichts Quälendes mehr für ihn. Resigniert hatte er sich damit abgefunden, dass Nora in ihre Heimat zurückgekehrt und er in seiner geblieben war. Die immer wiederkehrende Erinnerung an das Glück ihrer einzigartigen Liebe zueinander konnte ihm niemand nehmen, und nach einem anfänglich vorhandenen dumpfen Schmerz zog er mittlerweile so etwas wie ruhige Besonnenheit und Kraft daraus. Es hatte sie wirklich gegeben, und das, was er mit ihr hatte erleben dürfen, hatte ihm zu der Gewissheit verholfen, wirklich lebendig und zu echten Gefühlen fähig zu sein.
Zuhause angekommen, ging er duschen, zog sich um und machte sich erfrischt daran, einen Salat und ein Sandwich zuzubereiten. Er freute sich auf einen ruhigen Abend auf der Veranda. Sein Haus lag ein wenig außerhalb des Ortes. Das hatte ihm gleich zu Anfang gefallen. Es war durchaus nicht so, dass er die Gesellschaft der Nachbarn mied, aber er hätte es nicht sehr gemocht, ständig irgendwelche Floskeln über den Gartenzaun hinweg austauschen zu müssen oder unter Beobachtung zu stehen, wenn er, so wie jetzt, die Füße auf die Verandabrüstung gelegt hatte und mit dem Teller auf dem Bauch sein Abendessen verdrückte. Zufrieden kaute er sein Sandwich, hörte dem gleichmäßigen Zischen der zuvor angestellten Gartenberegnung zu und schaute in die Ferne. Obwohl es erst in ein bis zwei Stunden dunkel werden würde, genoss er die Abendstimmung mit den typischen Geräuschen der hier lebenden Tiere.
Ein Gespräch mit Nora kam ihm wieder in den Sinn. Sie war in den Blue Mountains von diesen für sie fremdartigen Vogelgesängen völlig fasziniert gewesen. An ihn geschmiegt, hatte sie ihn an ihren Gedanken teilhaben lassen und ihm schließlich von der Nachtigall erzählt, die bei ihr zu Hause im Frühsommer ganze Nächte hindurch in vollkommener Dunkelheit wunderschön zwitscherte und sang. Tom griff schmunzelnd nach seinem Bierglas. Natürlich hatte ihn Nora gleich darauf gefragt, ob es einen solchen Vogel auch in Australien gebe, und er war nicht in der Lage gewesen, ihr diese Frage zu beantworten. Er war immer wieder erstaunt darüber gewesen, mit welcher Intensität sie versuchte, diesen Kontinent kennen zu lernen. Alles schien sie gleichermaßen zu interessieren. Unwillkürlich überlegte er, wie ihr Leben in Hamburg jetzt wohl aussah. Das Telefonklingeln riss ihn aus diesen Gedanken. Er nahm seinen Teller, schwang die Beine auf den Boden und ging ins Haus.
27
A ls Nora die Praxis ihres Arztes verlassen hatte, war ihr nicht im Entferntesten klar, wie sie nach Hause gekommen war. Wie betäubt saß sie nun schon seit einer ganzen Stunde im Wohnzimmer und starrte auf einen Bilderrahmen am Fenster, der ein Foto von den Kindern im letzten Familienurlaub zeigte. Ihre Hände waren immer noch eiskalt, und sie fröstelte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, neben sich zu stehen und sich selbst zu beobachten. Dumpf hallte ein einziges Wort in ihrem Kopf – schwanger. Und es gab nicht den geringsten Zweifel, von wem das Kind war.
Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf gegen die Sofalehne. Tom. Immer wenn sie glaubte, auch in einem Leben ohne ihn glücklich werden zu können, tauchte er auf irgendeine Weise wieder auf. Instinktiv hatte sie eine Hand auf ihren Bauch gelegt. Alle möglichen Gedanken schössen ihr durch den Kopf, ohne dass sie dazu
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