Noras großer Traum (German Edition)
emporrankte. Nora freute sich daran. Irgendwie schien diese Blume nur auf sie gewartet zu haben. Selbst Martin, der sich auf einem Felsen niedergelassen hatte und in einige Erläuterungen über diese Kunst vertieft war, schien beeindruckt.
Als Nora zu ihm hinaufkletterte und sich neben ihn setzte, hatte sie immer noch Schwierigkeiten, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Sie sah zu den höher liegenden Felsen hinauf und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Die Temperaturen mussten mittlerweile dreißig Grad Celsius überschritten haben, und da sie im Morgengrauen aufgestanden waren, konnte sie auch ein Gähnen nicht unterdrücken. Martin faltete den Informationszettel zusammen und schaute sie an. »Müde?«
Sie nickte. »Ja, irgendwie schon. Aber trotzdem mag man ans Ausruhen gar nicht denken. Es gibt so viel zu sehen.« Sie mochte ihm ihre tief gehenden Empfindungen und ihr Interesse an dieser uralten Kultur nicht näher beschreiben. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er das verstehen würde. Er hatte schon so viele Länder bereist, dass sie ein solches Interesse bei ihm nicht vermutete.
Er blickte nun ebenfalls zu den Felsen hinauf. »Ja, du hast Recht. Man fühlt sich ziemlich klein und unbedeutend hier, nicht?«
Überrascht sah sie ihn an. Er schmunzelte, als er ihren Blick wahrnahm. Bereits in der kurzen Zeit, die sie gemeinsam unterwegs waren, hatte er feststellen können, dass sich ihre Gefühle fast immer deutlich in ihrem Gesicht spiegelten. Er empfand das als ausgesprochen sympathisch. Sie nickte jetzt. Sie saßen noch eine Weile schweigend nebeneinander, bevor Martin sie fragend ansah.
»Einverstanden, lass uns zurückgehen.«
Martin griff nach seinen Sachen und stand auf. Bereits nach den ersten beiden Schritten rutschte er mit dem Absatz am Felsen ab und strauchelte. Seine Arme ruderten hilflos in der Luft, während auch der zweite Fuß keinen Halt mehr fand. Der Riemen seiner Kameratasche war ihm von der Schulter geglitten, und die Tasche fiel den Felsen hinab. Sekunden nach ihr stürzte er seitlich etwa dreieinhalb Meter hinunter. Obwohl er nicht sehr tief gefallen war, krümmte er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zwischen Gräsern und Steinen. Nora hatte einen erschrockenen Schrei ausgestoßen und war schnell hinuntergeklettert. Entsetzt stellte sie fest, dass sich sein T-Shirt an der linken Schulter blutrot färbte. Er musste sich an den schärferen seitlichen Felskanten ziemliche Schnittwunden zugezogen haben. Sie überlegte fieberhaft, was sie tun sollte. Er hatte sich aufgerichtet und grinste ihr mit zusammengebissenen Zähnen zu.
»Na? Wer von uns beiden ist hier wohl der Unprofessionelle?« Er hielt den Arm der verletzten Schulter an sich gedrückt und schaute sie besorgt an. »Nora, siehst du mal nach, ob meine Kamera was abbekommen hat?«
Sie blickte ihn entgeistert an. Der Blutfleck auf seinem T-Shirt hatte sich mittlerweile bis zur Hüfte ausgebreitet, und der Stoff klebte auf seiner Haut. Wütend zeigte sie ihm einen Vogel. »Sag mal, du bist wohl nicht bei Trost, jetzt an die Kamera zu denken! Du bist verletzt! Weißt du, ob wir Verbandszeug im Wagen haben?« Sie deutete nun auf sein T-Shirt. »Ich fürchte, wenn du so zum Auto läufst, ziehst du eine Blutspur hinter dir her. Wir müssen schnell ins Hotel zurück, da gibt es sicher einen Arzt.«
Martins Blick war ihrem Hinweis gefolgt. Ihm schien erst jetzt aufzufallen, dass er stark blutete. Als er sein klebriges T-Shirt wahrnahm, wurde er bleich und stöhnte. Offensichtlich konnte er den Anblick nicht gut ertragen. Nora nahm die Kameratasche und ihren Pullover, den sie sich, als es wärmer geworden war, um die Hüften gebunden hatte, und befahl Martin, sich auf die gesunde Körperseite zu legen. Sie schob ihm die Tasche und den Pullover unter den Kopf und sah sich um. Ausgerechnet jetzt konnte sie niemanden hier entdecken. Wahrscheinlich mieden alle die Mittagshitze im Park, was ja an sich vernünftig war. Sie legte die Wasserflasche neben ihn und beugte sich über ihn.
»Du bleibst hier bitte so liegen, Martin. Ich laufe zum Wagen und sehe nach, ob wir Verbandszeug haben. Ich bin gleich zurück.« Sie hatte sich schon aufgerichtet, als ihr noch etwas einfiel. »Wo hast du die Schlüssel?«
Er griff mit der unverletzten rechten Hand in seine Hosentasche und reichte ihr die Autoschlüssel. Besorgt blickte sie ihn an. Er sah bleich und abwesend aus. Sie hoffte sehr, dass er nicht ohnmächtig werden würde.
Weitere Kostenlose Bücher