Noras großer Traum (German Edition)
geschichtlichen Hintergrund dieses Landes zu betrachten. Glaub mir, Nora, gerade die zwiespältigen Gefühle, die du hier offensichtlich immer wieder durchlebst und die du zulässt, machen es so spannend, dich bei der Arbeit zu beobachten.«
Sie schnitt nun eine Grimasse. »Dann bin ich wohl so etwas wie ein Insekt unter dem Mikroskop für dich, oder was? Was denn für zwiespältige Gefühle?«
»Na, wenn du zum Beispiel auf nette, freundliche Farmer triffst, die dir sympathisch sind und die dann aber – auch heute noch – abfällige Bemerkungen über die Aborigines machen, die dich doch so faszinieren, dann stürzt dich das offensichtlich immer wieder in Konflikte. Trotzdem gibst du nicht auf. Ständig versuchst du aufs Neue hinter eine Sache zu steigen oder zeigst Bereitschaft, andere Sichtweisen und Blickwinkel zuzulassen oder sie wenigstens anzuhören. Du willst sozusagen alle Aspekte, die auf dich einstürzen, aufnehmen und in deine Arbeit einfließen lassen. Das macht dich glaubhaft. Und ich muss dir sagen, du reißt mich einfach mit.«
Er lachte herzhaft, als er bemerkte, dass sie wieder einmal mit Verlegenheit zu kämpfen hatte. Aber ehrlich, wie sie war, meinte sie schließlich: »Martin, das war nun wirklich das Netteste, das mir auf australischem Boden bisher gesagt worden ist. Danke.«
Er klopfte ihr kameradschaftlich aufs Knie.
»So, wir haben noch eine ganz schöne Strecke vor uns. Hoffentlich schaffen wir es vor Sonnenuntergang. Wie wär’s, wenn du mich ein wenig an deinem Wissensdrang teilhaben lässt? Erklär mir doch mal, warum die einen Uluru und die anderen Ayers Rock sagen. Und was ist mit den Olgas?«
Nora lehnte sich zurück und begann zu erzählen.
»Seit Jahrtausenden ist der Ayers Rock für die Ureinwohner Australiens ein zentrales Heiligtum, eine heilige Kultstätte, die man ihnen nach der Besiedlung durch die Weißen einfach weggenommen hatte. Dieser Berg war für die Aborigines ein lebenserhaltender Ort inmitten der Wüste. Hier gab es Schatten und Wasser. Auf seinem Land und in der Umgebung laufen auch viele der Songlines zusammen.«
Martin sah sie stirnrunzelnd an. »Songlines? Was ist das?«
»Die Aborigines gehören schon seit Urzeiten zu den Jägern und Sammlern und leben in Stammesgemeinschaften. Diesen Stämmen standen bestimmte Territorien zur Verfügung. Nun konnten sie innerhalb dieser Gemeinschaften ja nicht lesen oder schreiben, also nutzten sie ihre Kunst als Mitteilungsform: Felsmalereien gaben zum Beispiel wichtiges Wissen über die Umgebung oder die sozialen Beziehungen zu anderen Stämmen weiter. Um aber Territorien abzugrenzen, benutzten sie ihre Gesänge.«
Nora machte eine kleine Pause, in der Martin sie überrascht ansah.
»Gesänge? Wie funktionierte denn das?«
»In den ›Songs‹ beschrieben sie ihr eigenes Stammesgebiet ganz genau – Merkmale wie Gesteinsformationen oder Flussläufe oder Ähnliches. Daraus waren dann für alle anderen die ›Lines‹, die Grenzen, erkennbar. So eine mündliche Art von Kartographie, die auch geändert wurde, wenn sich die Stammesbeziehungen verschoben.
Aber zurück zum Uluru. Der Stamm der Anangu, wie sich die dort ansässigen Aborigines selbst nennen, hatte schreckliche Zeiten durchstehen müssen, als die weißen Siedler kamen. Das Land der Ureinwohner wurde von den Schafen und Rindern der Siedler, die es einfach in Besitz genommen hatten, förmlich überschwemmt. Die Tiere richteten fürchterliche Schäden durch Überweidung an, und das Land konnte sich nicht mehr erholen. Hinzu kamen schwere Dürrekatastrophen, die außerdem noch dazu beitrugen, dass die Nahrungsgrundlagen der Anangu zerstört wurden. Sie wurden also praktisch dazu gezwungen, Missionsstationen oder von der Regierung errichtete Siedlungen aufzusuchen. Trotzdem gelang es ihnen, ihre Kultur lebendig zu halten. Traditionen und Fertigkeiten wurden weitergegeben und so die starke Bindung an das Land aufrechterhalten. Als es zur Landrechtsbewegung kam, wurde das Land 1985 zwar offiziell an die Anangu zurückgegeben, aber gleichzeitig zum Nationalpark erklärt, der wegen seiner großen kulturellen und ökologischen Bedeutung auch in der UNESCO-Liste als ›Erbe der Menschheit‹ geführt wird.«
Sie machte eine Pause, um etwas zu trinken. Martin warf ihr einen belustigten Seitenblick zu. »Ich wusste doch, dass ich es mir schenken kann, ein Buch über Australien zu lesen, wo ich dich dabeihabe.«
Sie zog wieder eine Grimasse. »Soll ich lieber
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