Noras großer Traum (German Edition)
erhältst.« Schließlich lächelte sie. »Komm doch bei uns vorbei, wenn du ausgeladen hast. Wir können zusammen essen.«
Tom erwiderte ihr Lächeln.
»Danke, Lisa. Ein anderes Mal gerne. Heute möchte ich nur noch ausräumen und lieber allein sein, okay? Wir sehen uns dann morgen.«
Sie winkten ihm zu, als der Wagen sich wieder in Bewegung setzte.
Nachdenklich betrachtete Tom den Umschlag, dann ging er langsam zu seinem Wagen, stieg ein und fuhr aus Cameron Downs hinaus. Er wollte im Augenblick wirklich nichts lieber, als allein sein. Er hatte darunter gelitten, Nora nicht mehr zu sehen. Bis zuletzt war er in seinen Überlegungen ins Wanken geraten, ob er den Verzicht auf einen persönlichen Abschied nicht bereuen würde. Er sah zu dem Umschlag, der auf dem Beifahrersitz lag. Dieser Brief war jetzt so etwas wie ein richtiger Abschied. Er lenkte den Wagen in einen staubigen Seitenweg und fuhr zum Fluss hinunter. Als er angehalten hatte, griff er nach dem Brief, stieg aus und setzte sich auf einen großen Stein am Ufer. Er betrachtete einen Moment seinen Namen, den sie auf den Umschlag geschrieben hatte, dann nahm er den Brief heraus und begann zu lesen.
»Lieber Tom,
es ist fast mitten in der Nacht, und ich liege noch immer in deinem Krankenhaus. Um diese Zeit ist es sehr ruhig hier, und ich kann meinen Gedanken freien Lauf lassen. In den nächsten Tagen werde ich nach Sydney verlegt, und ich möchte nicht von hier weg, ohne noch einmal bei dir zu sein, und sei es nur in diesem Brief. Ich kann deine Entscheidung, mir aus dem Weg zu gehen, gut verstehen. Ich hätte es ja auch nicht ertragen können, dir weiterhin zu begegnen, in deine Augen zu sehen und dir trotzdem nicht mehr nahe sein zu dürfen. Also ist es wohl besser so, auch wenn mir gerade jetzt – beim Schreiben dieser Zeilen – die Sehnsucht nach dir viel größere Schmerzen bereitet, als es diese blöden Rippenbrüche tun.
Die Zeit mit dir hier in Australien gehört zu den wunderbarsten Erfahrungen, die ich in meinem Leben machen durfte. Ich war unbeschreiblich glücklich mit dir, Tom. Dafür bin ich dankbar, denn auch wenn ich jetzt unsagbar traurig bin, von dir weggehen zu müssen, bleibt mir die Erinnerung daran, mit dir so viel Glück auf einmal erlebt haben zu dürfen. Du bist die Liebe meines Lebens – und ein Teil meines Herzens wird für immer hier bleiben.
Diesem Brief liegt ein Foto bei. Bitte sieh dir meine beiden Schätze einmal genau an. Ich wünsche mir so sehr, dass du mich auch ein wenig verstehst. Kannst du erkennen, wie glücklich sie sind? Ich bin ihre Mutter. Als ich sie zur Welt brachte, habe ich die Verantwortung für sie übernommen und für ihren Weg in ein glückliches Leben. Ich habe das noch nie bereut, auch heute nicht.
Vielleicht hältst du in ein paar Jahren ein ähnliches Bild in den Händen, mit deinen Kindern darauf. Spätestens dann, das weiß ich, wirst du mich verstehen. Ich liebe dich. Und ich wünsche dir alles Glück dieser Welt.
Nora«
Tief bewegt ließ Tom den Brief sinken und sah auf den Fluss, der sich lebhaft sprudelnd an einigen Felsbrocken vorbeischlängelte. Die Abendsonne tauchte die Landschaft in ein warmes Licht und setzte glitzernde Tupfer auf das Wasser. Tom atmete tief durch und fühlte, wie sich bei diesem Anblick die Anspannung in seinem Inneren langsam beruhigte. Dieses Land hier war sein Zuhause. Er lebte und arbeitete hier, erfüllte eine Aufgabe, die es in dieser Art und Weise wohl nur in Australien gab.
Mechanisch faltete er den Brief zusammen. Nach wie vor spürte auch er einen dumpfen Schmerz in seinem Inneren, wenn er an Nora dachte. Jetzt aber war er ihr dankbar, dass sie ihre Empfindungen für ihn so ehrlich in Worte gefasst hatte. Ihr Brief gab ihm das Gefühl, nicht länger der »Unterlegene« in ihrer kurzen Beziehung gewesen zu sein, der Schwächere, der liebte, aber trotzdem zurückgelassen wurde und keine Chance bekam. Sie wurden beide irgendwie zurückgelassen. Das war ihm jetzt klar und machte es für ihn ein wenig leichter. Nachdenklich drehte er den Brief in seinen Händen. Er genoss das Gefühl, dass sie den Umschlag ebenfalls in ihren Händen gehalten hatte. Es brachte ihn noch einmal in ihre Nähe. Sein Blick blieb auf dem Foto hängen, das wohl zu Boden gefallen war, als er den Brief gelesen hatte. Er hob es auf und betrachtete es. Ein leises Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, als er die strahlenden Geschwister ansah. Nach einer Weile schob er das Bild in den
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