Nordermoor
umgeben. Die Schwester hieß Elín, und sie war einige Jahre älter als Kolbrún und mittlerweile Rentnerin. Sie stand in der Garderobe, hatte einen Mantel an und war im Begriff, das Haus zu verlassen, als Erlendur klingelte. Sie schaute ihn ungläubig an. Sie war klein und schlank, ihr Gesichtsausdruck war hart, die Augen stechend, die Wangenknochen hoch und der Mund etwas faltig.
»Ich dachte, ich hätte dir am Telefon gesagt, dass ich nichts mit dir und der Polizei zu schaffen haben will«, sagte sie gereizt, als Erlendur sich vorgestellt hatte.
»Ich weiß«, sagte Erlendur, »aber …«
»Lass mich bitte in Ruhe«, sagte sie. »Du hättest dich nicht die ganze Strecke bis zu mir zu bemühen brauchen.«
Sie trat auf den Treppenabsatz, schloss die Tür hinter sich und ging die drei Stufen hinunter, öffnete das kleine Tor am Zaun und ließ es offen, zum Zeichen dafür, dass Erlendur verschwinden sollte. Sie blickte ihn nicht an. Erlendur stand auf der Treppe und schaute hinter ihr her.
»Du weißt, dass Holberg tot ist«, rief er.
Sie antwortete ihm nicht.
»Er wurde in seiner Wohnung ermordet. Du weißt es.«
Erlendur war hinter ihr die Treppe hinuntergegangen. Sie spannte einen schwarzen Regenschirm auf, auf den der Regen nur so niederprasselte. Er hatte nur seinen Hut zum Schutz gegen den Regen. Sie beschleunigte ihre Schritte. Er folgte ihr und musste fast rennen, um sie einzuholen. Er wusste nicht, was er sagen sollte, um sie dazu zu bringen, ihn anzuhören. Wusste nicht, weswegen die Frau so auf ihn reagierte.
»Ich möchte dich nach Auður fragen«, sagte er.
Die Frau hielt plötzlich inne, drehte sich um und ging schnell auf ihn zu, während sie ihn böse fixierte.
»Du mieser Bulle«, zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Erlaube dir ja nicht, ihren Namen in den Mund zu nehmen. Wie kannst du es wagen! Nach all dem, was ihr ihr angetan habt! Verschwinde! Verschwinde auf der Stelle, du mieser Bulle.«
Sie schaute Erlendur hasserfüllt an, aber er hielt ihrem Blick stand.
»Nach all dem, was wir ihr angetan haben?«, fragte er.
»Ihr?«
»Verschwinde«, rief sie, drehte sich auf dem Absatz um und ließ ihn einfach stehen. Er gab die Verfolgungsjagd auf und schaute zu, wie sie im Regen verschwand, ein klein wenig gebückt, in grünem Mantel und mit Stiefeln, die ihr über die Knöchel gingen. Er drehte sich um und ging nachdenklich zum Haus und zum Auto zurück. Er setzte sich hinein und zündete sich eine Zigarette an, öffnete das Fenster einen Spalt und ließ den Motor an. Er setzte langsam aus dem Parkplatz zurück, legte den ersten Gang ein und fuhr an dem kleinen Haus vorbei.
Er inhalierte den Rauch und verspürte wieder diesen schwachen Schmerz auf der Brust. Das war nichts Neues, sondern beunruhigte Erlendur schon seit bald einem Jahr. Ein schwacher Schmerz, mit dem er morgens erwachte, der nach dem Aufstehen aber meistens schnell wieder nachließ. Die Matratze, auf der er schlief, war nicht gut. Wenn er zu lange im Bett gelegen hatte, verspürte er manchmal Schmerzen am ganzen Leib.
Er inhalierte den Rauch.
Hoffte, dass es die Matratze wäre.
Das Handy klingelte in der Manteltasche, als er gerade die Zigarette ausmachte. Es war der Chef der Spurensicherung mit der Nachricht, dass sie die Grabschrift entschlüsselt und die Bibelstelle gefunden hätten.
»Es ist ein Zitat aus dem 64. Psalm Davids.«
»Ja«, sagte Erlendur.
»Vor dem Schrecken der Feinde behüte mein Leben.«
»Wie bitte?«
»Auf dem Grabstein steht: Vor dem Schrecken der Feinde behüte mein Leben. Das steht in den Psalmen Davids.«
»Vor dem Schrecken der Feinde behüte mein Leben.«
»Hilft dir das etwas?«
»Keine Ahnung.«
»Zweierlei Fingerabdrücke waren auf dem Bild.«
»Ja, das hat mir schon Sigurður Óli gesagt.«
»Die einen sind von dem Toten, aber die anderen sind bei uns nicht registriert. Sie sind ziemlich undeutlich. Sehr alte Fingerabdrücke.«
»Könnt ihr herauskriegen, mit was für einem Apparat das Bild gemacht wurde?«, fragte Erlendur.
»Schwer zu sagen. Ich glaube aber nicht, dass es eine besondere Kamera war.«
Kapitel 9
S igurður Óli parkte das Auto auf dem Gelände der Islandspedition an einer Stelle, wo er hoffte, dass es niemandem im Weg sein würde. Auf dem Betriebsgelände standen reihenweise Lastwagen. Einige wurden beladen, andere wurden weggefahren, und wieder andere rangierten rückwärts an die Rampe der Lagerhalle heran. Es stank nach Benzin und Öl,
Weitere Kostenlose Bücher