Nordermoor
Vermisstenfahndung angeleiert. Man sprach mit Leuten, von denen seine Mutter wusste, dass er Kontakt zu ihnen hatte, unter anderem Holberg und Elliði. Außerdem wurden noch drei andere verhört, aber niemand wusste etwas. Niemand machte sich über sein Verschwinden Gedanken, außer seiner Mutter und seiner Schwester. Er ist in Reykjavík geboren, hatte weder Frau noch Kinder, keine Freundin, keine Verwandtschaft. Die Angelegenheit war einige Monate in Bearbeitung und fiel dann sang- und klanglos unter den Tisch. Er war 34 Jahre alt.«
»Wenn er ein genauso unerfreulicher Zeitgenosse war wie seine Kumpel Elliði und Holberg, dann wundert es mich nicht, dass niemand ihn vermisst hat«, sagte Sigurður Óli.
»In den siebziger Jahren, als Grétar spurlos verschwand, sind dreizehn Menschen als vermisst gemeldet worden«, sagte Elinborg. »Zwölf in den achtziger Jahren, und wohlgemerkt, es geht hier nicht um Leute, die auf See umkamen.«
»Dreizehn Vermisste«, sagte Sigurður Óli, »ist das nicht ein bisschen viel? Wurde keiner der Fälle aufgeklärt?«
»Da muss nicht unbedingt ein Verbrechen dahinter stecken«, sagte Elinborg. »Leute verschwinden, machen sich aus dem Staub, lösen sich in Luft auf, verschwinden einfach.«
»Wenn ich das richtig verstehe«, sagte Erlendur, »sieht die Sache so aus: An einem Wochenende im Herbst 1963 gehen Elliði, Holberg und Gré tar in Keflavík zum Tanzen.«
Er sah, dass Sigurður Óli wie ein einziges Fragezeichen dreinschaute.
»Das Tanzlokal war ein altes Lazarett von den Amis, das man in einen Beatschuppen umgewandelt hatte. Ein Bumslokal der wildesten Sorte.«
»Haben da nicht damals die SOUNDS angefangen?«
»In diesem Schuppen treffen sie ein paar Frauen, und bei einer von ihnen geht es hinterher zu Hause weiter«, fuhr Erlendur fort. »Wir müssen diese Frauen finden. Holberg geht mit einer, nämlich Kolbrún, nach Hause und vergewaltigt sie. Er scheint mit dieser Tour schon früher einmal Erfolg gehabt zu haben. Er geilt sich damit auf, ihr zu sagen, wie er eine andere Frau behandelt hat. Es kann sein, dass sie in Húsavík wohnt oder gewohnt hat, und wahrscheinlich hat sie ihn nicht angezeigt. Drei Tage später rafft Kolbrún sich endlich auf und will Anzeige wegen der Vergewaltigung erstatten, trifft aber auf einen Polizisten, der wenig Mitgefühl mit Frauen hat, die Männer nach dem Tanzen zu sich nach Hause einladen und dann behaupten, dass sie vergewaltigt worden sind. Kolbrún bekommt ein Kind. Holberg hätte von diesem Kind wissen können, wir finden ein Foto von dem Grabstein des Mädchens in seinem Schreibtisch. Wer hat es geknipst? Weswegen? Das Mädchen stirbt an einer unheilbaren Krankheit, und seine Mutter begeht ein paar Jahre später Selbstmord. Einer von Holbergs Kumpeln verschwindet drei Jahre später. Holberg wird vor einigen Tagen ermordet aufgefunden, und bei der Leiche hat jemand eine unverständliche Nachricht hinterlassen.«
Erlendur machte eine kurze Pause.
»Warum wird Holberg erst jetzt ermordet, wo er schon so alt ist? Steht der Täter mit dieser Vorgeschichte in Verbindung? Und falls das der Fall ist, warum hat er sich dann Holberg nicht früher vorgeknöpft? Warum dieses Abwarten? Oder hat der Mord nichts mit der Tatsache zu tun, falls es denn eine Tatsache ist, dass Holberg ein Vergewaltiger war?«
»Ich finde, wir dürfen nicht die Tatsache übersehen, dass es kein vorsätzlicher Mord war«, warf Sigurður Óli ein. »Wie Elliði schon ganz richtig gesagt hat, welcher Armleuchter benutzt einen Aschenbecher? Es hat nicht den Anschein, als gäbe es da eine lange Vorgeschichte. Die Nachricht ist irgendwie ein Witz, irgendwas, woraus wir nicht schlau werden. Der Mord an Holberg hat nichts mit irgendwelchen Vergewaltigungen zu tun. Unsere ganze Abteilung sucht nach dem jungen Mann im grünen Parka.«
»Holberg war kein Engel«, sagte Elinborg. »Vielleicht ist der Mord aus Rache erfolgt, oder wie immer man das nennen will. Jemand fand vielleicht, dass er das verdient hatte.«
»Die Einzige, von der wir wissen, dass sie Holberg gehasst hat, ist Elín in Keflavík. Aber die kann ich mir schwerlich vorstellen, wie sie jemanden mit einem Aschenbecher umbringt.«
»Hätte sie jemanden beauftragen können?«, fragte Sigurður Óli.
»Wen?«, fragte Erlendur.
»Ich weiß es nicht. Andererseits hat es den Anschein, und irgendwie tendiere ich dazu, als hätte sich jemand in dem Viertel herumgetrieben, um irgendwo einzubrechen, zu stehlen
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