Nordermoor
herausstellte, dass sie nicht zu Hause war. Er wusste, dass sie sich ganz und gar gegen ihn stellen würde, und er wollte sie am liebsten nicht wieder in diese Verfassung bringen, in der sie ihn einen miesen Bullen genannt hatte. Es würde aber nicht zu umgehen sein. Wenn nicht jetzt, dann später. Er stöhnte laut vor sich hin, während die Zigarette aufbrannte, bis er auf einmal die Hitze an den Fingern spürte. Er hielt den Rauch in den Lungen, während er sie ausdrückte, um ihn dann vehement von sich zu blasen. Ein Satz aus einer Antirauchkampagne ging ihm durch den Sinn: Es bedürfe nur einer einzigen anfälligen Zelle, um Krebs entstehen zu lassen.
Er hatte morgens wieder den Schmerz in der Brust verspürt, aber jetzt war er weg.
Erlendur setzte gerade zurück, als Elín an die Scheibe klopfte.
»Wolltest du zu mir?«, fragte sie unter ihrem Regenschirm, als er das Fenster herunterließ.
Erlendur setzte ein grimassenartiges Lächeln auf, eine fratzenartige Miene, die man nicht enträtseln konnte, und nickte schwach mit dem Kopf. Er wusste, dass seine Leute bereits unterwegs zum Friedhof waren.
Sie machte ihm die Tür auf, und er kam sich wie ein Verräter vor. Er nahm den Hut ab und hängte ihn an einen Haken, zog Mantel und Schuhe aus und ging dann in seinem zerknitterten Anzug ins Wohnzimmer. Unter dem Jackett trug er eine braune Strickweste, die er aber schief zugeknöpft hatte, sodass das letzte Knopfloch offen war. Er setzte sich in denselben Sessel wie bei seinem ersten Besuch in diesem Haus, und sie setzte sich ihm gegenüber, nachdem sie in der Küche den Kaffee aufgesetzt hatte, dessen Duft durch das Haus zu strömen begann.
Der Verräter räusperte sich.
»Einer von denen, die sich an dem Abend, als Kolbrún vergewaltigt wurde, mit Holberg einen lustigen Abend gemacht hatten, heißt Elliði und sitzt im Knast. Er ist bereits seit langem ein guter Bekannter der Polizei. Der dritte, der mit ihnen war, hieß Grétar. Er ist 1974 spurlos verschwunden. Das Jubiläumsjahr, du weißt.«
»Ich war dabei in Þingvellir«, sagte Elín. »Habe Tómas und Halldór gesehen.« 1 Erlendur räusperte sich.
»Und hast du mit diesem Elliði gesprochen?«, fuhr Elín fort.
»Ein ganz besonders widerwärtiger Zeitgenosse«, sagte Erlendur.
Elín entschuldigte sich, stand auf und ging in die Küche. Er hörte Tassen klappern. Sein Handy klingelte in der Jackentasche, und er zog eine Grimasse, als er antwortete.
Auf dem Display hatte er gesehen, dass es Sigurður Óli war.
»Bei uns ist alles klar«, sagte Sigurður Óli, und Erlendur hörte den Regen in der Leitung.
»Es wird nichts unternommen, bevor ich mich nicht wieder bei dir melde«, sagte Erlendur. »Verstanden? Es wird nichts angerührt, bis du nicht entweder von mir hörst oder ich selber da bin.«
»Hast du mit der Alten gesprochen?«
Erlendur gab keine Antwort, sondern brach das Gespräch ab und steckte das Telefon wieder in die Tasche. Elín brachte den Kaffee, deckte die Tassen und schenkte ein. Beide tranken den Kaffee schwarz. Sie stellte die Thermoskanne auf den Tisch und setzte sich wieder Erlendur gegenüber. Er räusperte sich.
»Elliði sagte, dass Holberg vor Kolbrún noch eine andere Frau vergewaltigt hat und dass er Kolbrún das gesagt hat«, sagte er und bemerkte Elín’s verwunderten Gesichtsausdruck.
»Falls Kolbrún von einer anderen gewusst hat, dann hat sie mir jedenfalls nie etwas davon erzählt«, sagte sie und schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ob er wirklich die Wahrheit sagt?«
»Das müssen wir einkalkulieren«, sagte Erlendur. »Elliði ist allerdings so abgebrüht, dass er so etwas wohl auch zusammenlügen könnte. Andererseits haben wir nichts in der Hand, was seiner Aussage widerspricht.«
»Wir haben nicht oft über die Vergewaltigung gesprochen«, sagte Elín. »Ich glaube, das war wegen Auður. Unter anderem. Kolbrún war sehr zurückhaltend, sie war schüchtern und verschlossen, und das verstärkte sich noch nach der Tat. Und natürlich kam es überhaupt nicht in Frage, über diesen grauenvollen Vorfall zu reden, solange sie das Kind unter dem Herzen trug, und erst recht nicht, nachdem es auf die Welt gekommen war. Kolbrún hat alles getan, was in ihrer Macht stand, um zu vergessen, dass die Vergewaltigung jemals stattgefunden hatte. Alles, was damit zusammenhing.«
»Ich bilde mir ein, dass Kolbrún es vielleicht der Polizei erzählt hätte, wenn sie etwas von einer anderen gewusst hätte, und sei es
Weitere Kostenlose Bücher