Nordermoor
hatte, aber die Helligkeit war da unregelmäßig, es gab winzige Schatten, die seiner Fantasie auf die Sprünge halfen.
»Können wir diesen Bereich vergrößern?«, fragte er Ragnar, der auf dieselbe Stelle starrte, aber nichts erkennen konnte. Sigurður Óli nahm das Foto und hielt es sich dicht vor die Augen, konnte aber das, was Erlendur zu sehen glaubte, nicht erkennen.
»Das geht ganz schnell«, sagte Ragnar. Sie folgten ihm aus dem Büro in die Arbeitsräume.
»Sind Fingerabdrücke auf den Filmen?«, fragte Sigurður Óli.
»Ja«, sagte Ragnar, »zweierlei, und zwar dieselben wie auf dem Foto vom Friedhof. Sie sind von Grétar und Holberg.«
Das Foto wurde eingescannt und erschien auf einem großen Bildschirm. Der Bereich wurde vergrößert. Was auf dem Foto eine unregelmäßige Helligkeit gewesen war, wurde jetzt zu unzähligen Punkten auf dem Bildschirm, den sie ganz bedeckten. Sie konnten nichts darauf erkennen, und sogar Erlendur verlor das aus den Augen, was er gesehen zu haben glaubte. Der Sachverständige bearbeitete eine Weile die Tastatur, gab Befehle ein, und das Bild wurde wieder kleiner und verdichtete sich. Er machte weiter, die Punkte reihten sich zusammen, bis sich allmählich das Gesicht eines Mannes abzuzeichnen begann. Es war sehr undeutlich, aber Erlendur glaubte Holberg auf dem Foto zu erkennen.
»Ist das nicht das Schwein?«, fragte Sigurður Óli.
»Hier ist noch mehr«, sagte der Techniker, indem er fortfuhr, das Bild schärfer zu machen. Bald kamen Wellen zum Vorschein, die an langes Frauenhaar erinnerten, und ein weiteres, weniger deutliches Gesicht von der Seite. Erlendur starrte auf das Bild, bis er zu sehen schien, dass Holberg mit einer Frau sprach. Eine merkwürdige Vision überfiel ihn im gleichen Moment, als ihm das klar wurde. Er hätte der Frau zurufen mögen, die Wohnung sofort zu verlassen, aber im gleichen Augenblick begriff er, dass es zu spät war. Jahrzehnte zu spät.
In diesem Moment klingelte ein Telefon im Zimmer, aber niemand bewegte sich. Erlendur dachte, es wäre das Telefon auf dem Schreibtisch.
»Es ist deins«, sagte Sigurður Óli zu Erlendur.
Erlendur brauchte einige Zeit, um das Handy zu finden, aber endlich fischte er es aus der Jacketttasche.
Es war Elinborg.
»Wo trödelst du denn herum«, sagte sie, als er endlich antwortete.
»Komm gefälligst zur Sache«, sagte Erlendur.
»Zur Sache? Warum bist du so gestresst?«
»Natürlich kannst du mir nicht einfach das sagen, was du zu sagen hast.«
»Es geht um die Jungen von Katrín«, sagte Elinborg.
»Oder die Kerle, das sind ja alles erwachsene Männer.«
»Was ist mit ihnen?«
»Alles anständige Zeitgenossen, wahrscheinlich, nur der eine arbeitet an einem etwas interessanten Arbeitsplatz. Ich dachte, das müsste ich dir sofort mitteilen, aber wenn du zu gestresst und in Zeitdruck bist und keine Zeit für einen kleinen Plausch hast, dann ruf ich einfach Sigurður Óli an.«
»Elinborg.«
»Was denn, mein Süßer?«
»Herrgott noch mal, Frau«, rief Erlendur und blickte auf Sigurður Óli, »wirst du mir jetzt gefälligst das sagen, was du mir sagen willst.«
»Ein Sohn arbeitet beim Isländischen Genforschungszentrum«, sagte Elinborg.
»Was?«
»Er arbeitet beim Isländischen Genforschungszentrum.«
»Genforschungs … welcher Sohn?«
»Der jüngste. Er arbeitet bei dieser neuen Datenbank da. Arbeitet mit Familiengenealogien und Krankheiten, isländischen Stammbäumen und erblichen Krankheiten, Erbkrankheiten. Der Mann ist Experte in isländischen Erbkrankheiten.«
Kapitel 35
E rlendur kam spätabends nach Hause. Er hatte vor, am nächsten Morgen gleich in der Frühe wieder zu Katrín zu gehen und mit ihr über seine Vermutung zu sprechen. Er hoffte sehr, dass der Sohn bald auftauchen würde. Falls die Suche sich in die Länge ziehen würde, bestand die Gefahr, dass die Medien sich darauf stürzen würden, und das wollte er um jeden Preis vermeiden.
Eva Lind war nicht zu Hause. Sie hatte die Küche nach Erlendurs Wutausbruch aufgeräumt, und er stellte das eine der beiden Fertiggerichte, die er mitgebracht hatte, in die Mikrowelle und drückte auf Start. Erlendur erinnerte sich daran, dass Eva Lind einige Abende vorher, als er auch an der Mikrowelle gestanden hatte, gekommen war und ihm eröffnet hatte, dass sie ein Kind erwartete. Ihm kam es so vor, als sei es schon ein ganzes Jahr her, seit sie ihm gegenübergesessen hatte, ihm Geld abluchsen wollte und seinen Fragen
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