Nordermoor
ausgewichen war, aber er wusste, dass es nur ein paar Tage her war. Er hatte nachts immer noch üble Träume. Er träumte nicht viel, und beim Aufwachen erinnerte er sich immer nur an ein paar Fetzen aus diesen Träumen. Aber immer verfolgten ihn die unangenehmen Gefühle ins Wachen hinein, und er konnte sie nicht loswerden. Und die Sache wurde auch nicht besser dadurch, dass der Schmerz in der Brust immer wieder auftrat, ein stechender Schmerz, den er nicht wegmassieren konnte.
Er dachte an Eva Lind und das Kind und an Kolbrún und Auður und Elín, an Katrín und ihre Söhne, an Holberg und Grétar und an Elliði im Gefängnis und an das Mädchen aus Garðabær, an ihren Vater und an sich und seine eigenen Kinder, seinen Sohn Sindri Snær, den er fast nie sah, und an Eva, die zu ihm kam und die er mit Vorwürfen überschüttete, wenn ihm das, was sie machte, missfiel. Sie hatte Recht. Es stand ihm schlecht an, andere zusammenzustauchen.
Er dachte über Mütter und Töchter nach und Väter und Söhne und Kinder, die gezeugt wurden und die keiner wollte, Kinder, die in dieser winzigen isländischen Gesellschaft starben, wo alle irgendwie verwandt oder verschwägert zu sein schienen.
Falls Holberg der Vater von Katríns jüngstem Sohn war, hatte der dann seinen Vater ermordet? Wie hatte er die Zusammenhänge herausgefunden? Hatte Katrín es ihm gesagt? Wann? Weswegen? Hatte er es die ganze Zeit gewusst? Wusste er von der Vergewaltigung? Hatte Katrín ihm gesagt, dass sie von Holberg vergewaltigt und er dabei gezeugt worden war? Was für ein Gefühl muss das sein? Was für ein Gefühl ist es, wenn man herausfindet, dass man nicht der ist, der man zu sein glaubte? Nicht der Mann, der man ist? Dass der Vater nicht der Vater ist, man selbst nicht sein Sohn ist, man selbst der Sohn eines anderen, von dem man nicht wusste, dass er existierte. Eines Mannes, der brutal vergewaltigte.
Wie das wohl ist?, dachte Erlendur. Wie wird man mit so etwas fertig? Geht man hin und trifft seinen Vater und ermordet ihn? Schreibt dann: Ich bin er.
Aber falls Katrín ihm nicht von Holberg erzählt hatte, wie hatte er dann die Wahrheit herausgefunden? Erlendur ließ sich diese Frage immer wieder durch den Kopf gehen. Je mehr er über die Sache nachdachte und die Möglichkeiten erwägte, desto mehr musste er an den Message-Tree in Garðabær denken. Es gab nur noch eine andere Möglichkeit für den Sohn, die Wahrheit herauszufinden, und das wollte Erlendur am nächsten Tag überprüfen.
Und was war das, was Grétar gesehen hatte? Warum hatte er sterben müssen? Hatte er Holberg erpresst? Hatte er von Holbergs Vergewaltigungen gewusst und gedroht auszusagen? Hatte er Fotos von Holberg gemacht? Wer war die Frau auf dem Bild mit Holberg? Wann war das Foto gemacht worden? Grétar war 1974 verschwunden, also musste es vorher aufgenommen worden sein. Erlendur dachte darüber nach, ob es noch mehr Opfer von Holberg gab, die nie von sich hatten hören lassen.
Er hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Eva Lind kam nach Hause.
»Ich habe mich mit dem Mädchen getroffen und sie nach Garðabær gebracht«, sagte sie, als sie Erlendur aus der Küche kommen und die Tür hinter sich zumachen sah. »Sie hat ihnen klipp und klar erklärt, dass sie Anzeige gegen das Arschloch erstatten will, das sie all die Jahre missbraucht hat. Die Mutter kriegte einen Nervenzusammenbruch. Dann sind wir gegangen.«
»Zum Ehemann?«
»Ja, nach Hause in die süße kleine Wohnung«, sagte Eva Lind und kickte die Schuhe im Korridor von sich. »Zuerst war er wütend, aber er beruhigte sich dann, als er die Erklärung bekam.«
»Wie hat er es aufgenommen?«
»Er ist ein prima Typ. Als ich abhaute, war er auf dem Weg nach Garðabær, um sich den Kerl vorzuknöpfen.«
»Aha.«
»Glaubst du, dass es einen Sinn hat, den Kerl anzuzeigen?«, fragte Eva Lind.
»Das sind problematische Fälle. Die Männer streiten alles ab und kommen irgendwie damit durch. Die Frage ist, ob die Mutter etwas sagt. Vielleicht sollte sie sich mal mit der Frauenberatungsstelle in Verbindung setzen. Und was gibt’s von dir selbst zu berichten?«
»Alles bestens«, sagte Eva Lind.
»Hast du eine Sonaruntersuchung oder wie das heißt in Erwägung gezogen?«, fragte Erlendur. »Ich könnte mit dir gehen.«
»Darauf wird es hinauslaufen«, sagte Eva Lind.
»Wirklich?«
»Ja.«
»Gut«, sagte Erlendur.
»Und was hast du so getrieben?«, fragte Eva Lind und knallte das andere
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