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Norderney-Bunker

Norderney-Bunker

Titel: Norderney-Bunker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Reuter
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hemdsärmeligen Tischmanieren Lübberts unbeeindruckt. Er nahm die Norderneyer Badezeitung zur Hand und las. Dann hielt er die Titelseite dem mit seinem Carpaccio kämpfenden Lübbert hin und sagte: „Ich finde, unsere Personenbeschreibungen treffen hervorragend zu. Und auch die Phantomzeichnungen sind exzellent.“
    „Ja, da kann man nicht meckern“, gurgelte Lübbert mehr, als er sprach.
    „Und trotzdem.“ Winnetou verschränkte die Arme hinter dem Kopf und zog an der Zigarette, die er lässig im Mundwinkel hielt. „Trotzdem werde ich eines Tages die Kurve kriegen.“
    Dann nahm er die Kippe aus dem Mund und warf sie in die Ecke. Sein wie aus dem Nichts kommender Weinkrampf fuhr Lübbert durch Mark und Bein. Er würgte den letzten Bissen hastig in sich hinein, kniete sich dann neben Winnetou und packte ihn an Arm und Schulter.
    „Was ist los, großer Häuptling? Was ist passiert?“. Winnetou schüttelte sich, zog eine Serviette vom Tisch und putzte sich damit die Nase. Lübbert wusste nicht, was er tun konnte, außer seinem zusammenbrechenden Kumpel Champagner nachzuschenken und ihm den Becher hinzuhalten.
    „Lass man gut sein“, schluchzte Winnetou.
    Nachdem er sich erneut kräftig geschüttelt und die Haare in den Nacken geworfen hatte, erzählte er Lübbert die Geschichte von seiner Familie, von Lisa, seiner Frau, und den Töchtern Judith und Laura, von seiner Karriere als Professor an der philosophischen Fakultät der Universität in Köln, von seinen Erfolgen in der Forschungsgruppe der Musikwissenschaftler, von seiner Zeit als Frontmann in einer durchaus erfolgreichen Rockband, von der Vorzeigewohnung in Junkersdorf, von den Urlauben in Italien und Spanien, von den Geburten der Kinder, vom Anschaffen des ersten Autos, von Weihnachten, von Ostern und von den Geburtstagen, von den schlicht beispielhaft glücklichen Tagen mit den Kindern und Lisa, die ihm an einem Abend, als er sie zum Essen ausführen wollte, eröffnete, dass die Bauchspeicheldrüse nicht mehr zu retten sei und nun alles blitzschnell gehen werde und sie dieses Leben mit Zuversicht verlasse, weil sie wisse, dass er sich rührend um Laura und Judith kümmern werde.
    Als er so sprach, wie an einem Seil, ohne Punkt und Komma, starrte Winnetou gegen die Wand, während Lübbert der Atem stockte, ihm – mehr denn Winnetou selbst – die Tränen über die Wangen rannen. Dann setzte er wieder an, sprach weiter, leise, fast unhörbar, mit gefalteten Händen, die Fingerspitzen an den Lippen und mit geschlossenen Augen. Die Kerze flackerte, der Champagner knisterte im Becher.
    Alles, ja, alles sei ihm entglitten, der Schnitt in seinem Leben habe ihn so sehr verletzt, dass er es nicht mehr geschafft habe, mit den simpelsten und trivialsten Dingen klarzukommen. Das Letzte, das er mit Anstand hinter sich gebracht habe, sei Lisas Beerdigung gewesen, von da an habe Alkohol seine Welt regiert. Nicht nur seinen Lehrauftrag habe er innerhalb kürzester Zeit verloren, auch die Kinder – und damit sein ganzes Leben.
    Das nachfolgende Schweigen geriet zur schier unerträglichen Kraftprobe. Lübbert kauerte mittlerweile auf dem Boden neben der Schubkarre. Am liebsten hätte er geschrien und gegen die Wand getreten, so sehr hatte ihn die Geschichte Winnetous mitgenommen. Der schien inzwischen wieder gefasst. Nachdem er zwei, drei Mal geschluckt und realisiert hatte, wo er sich befand, kramte er aus der Prada -Tasche die nächste Flasche Champagner. Dann nahm er sich eine Zigarette aus der Schachtel und suchte auf dem Tisch nach Lübberts Streichhölzern.
    „Es ist schon fünf nach zwölf“, hörte er dann Lübbert sagen, der sich wieder aufgerichtet hatte und nun vor seinem Freund stand.
    „Wir haben jetzt den 17. Juni. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag“, sagte Lübbert mit leiser Stimme. Winnetou erhob sich, zog die Nase hoch und wischte sich mit dem Handrücken die letzten Tränen auf dem Gesicht. Dann umarmten sie sich.
    „Hier ist dein Geschenk“, sagte Lübbert schließlich und zog ein mit 36 Swarovski -Kristallen besetztes Feuerzeug aus der Hosentasche.
    Winnetou zeigte sich sichtlich beeindruckt: „Wo hast du das her?“
    „Während du bei unseren Freunden, bei denen wir duschen durften, den Kühlschrank leer geräumt hast, war ich noch schnell im Nachbarhaus, um dort nach dem Rechten zu schauen. Und da ich nicht nur wusste, dass du heute Geburtstag hast, sondern auch, dass dir dein Feuerzeug abhanden gekommen ist, habe ich mich

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